Roger Kunert
Die Musikinterpretation Wilhelm Furtwänglers
Die Musikinterpretation Wilhelm Furtwänglers
Wer sich ein und dasselbe Musikstück mehrmals anhört, gegebenenfalls vom gleichen Orchester gespielt, aber mit verschiedenen Dirigenten, wird möglicherweise überraschende Unterschiede hinsichtlich der Art der Aufführung und des daraus resultierenden Unterschieds in der Wirkung feststellen. In der Tat ist die Musikinterpretation des jeweiligen Dirigenten von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Und es ist darüber hinaus auffallend, daß bis heute in Fachkreisen der Name eines Dirigenten als Maßstab immer wieder auftaucht: Wilhelm Furtwängler. Warum ist Wilhelm Furtwängler nach wie vor Maßstab, was macht das Besondere seiner Musikinterpretation aus, woraus folgert seine so lang anhaltende Wirkung?
Zur Person
Wilhelm Furtwängler wurde am 25. Januar 1886 in Berlin geboren. Sowohl als Komponist als auch als Dirigent vor allem der Werke von Beethoven, Brahms, Bruckner und Wagner erlangte Furtwängler internationales Ansehen. Ihm oblag die Leitung namhafter Orchester; unter anderem war er von 1922 bis 1954 Chefdirigent des Berliner Philharmonischen Orchesters.
Wilhelm Furtwängler starb am 30. November 1954 in Baden-Baden.
Furtwänglers Musikinterpretation
Wilhelm Furtwängler legt sich die eingangs angeführte Fragestellung selbst vor: „Warum klingt ein und dasselbe Orchester unter dem einen voll, rund und ausgeglichen und unter dem anderen scharf, hart und eckig? (...) Es gibt Dirigenten, unter denen die kleinste Dorfkapelle spielt, als seien sie die Wiener Philharmoniker, und es gibt solche, unter denen selbst die Wiener Philharmoniker klingen wie eine Dorfkapelle.”[1] Furtwängler bringt seine Auffassung von der Aufgabe und Bestimmung des Dirigenten, und damit das Selbstverständnis seines eigenen Musikschaffens, folgendermaßen zum Ausdruck: „Die Aufgabe des Kapellmeisters, des darstellenden Künstlers überhaupt, ist nicht – wie viele es sich, befangen in falschen Begriffen von dem, was Musikleben sein soll, vorstellen – möglichst ‚objektiv‘ zu berichten, sozusagen die Musik, die er unter den Händen hat, zu ‚referieren‘, sondern diese Musik mit aller Leidenschaft und Liebe, deren er fähig ist, zu glühendem Leben zu erwecken. Und muß er bei der Auswahl der aufzuführenden Werke ‚sine ira et studio‘ verfahren, so ist bei der Darstellung derselben im Gegenteil leidenschaftlichste Teilnahme seine Pflicht.”[2] Da 95 Prozent aller Kunstbetätigung erlernbare Routine sei, käme es einzig und allein auf die letzten 5 Prozent an[3]: „Dirigieren ist Ausströmen seelischer Energien auf einen Instrumentalkörper, und diese seelischen Energien bilden schließlich auch die materielle Qualität des Tons, das rhythmische, harmonische und klangliche Leben.”[4] Furtwängler spricht von Dirigenten, die „es vermögen, jedem Orchester ihren eigenen Klang sofort aufzuprägen, während beim schulmäßig richtigen Dirigenten – alle Orchester gleich klingen.” [5]
Werner Thärichen, 35 Jahre lang Erster Solopauker bei den Berliner Philharmonikern, schildert folgendes Erlebnis: „Eines Tages saß ich an meinen Pauken, verfolgte während der Probe eines Gastdirigenten die vor mir liegende Orchesterpartitur und war in Einzelheiten der Instrumentierung vertieft. Normalerweise dienen Proben dazu, sich über alles das, was für die Aufführung notwendig ist, zu verständigen. Das Zusammenspiel wird geprobt, Tempo und Lautstärke werden festgelegt, manchmal wird die Stimmung korrigiert (…) Das endgültige klangliche und gestalterische Engagement ist der Aufführung vorbehalten. Ich konnte mich in aller Ruhe in die Partitur versenken und das Gespielte verfolgen. Plötzlich änderte sich die Klangfarbe. Eine Wärme und Intensität kam auf, als ginge es bereits jetzt um alles. Verwundert schaute ich von meiner Partitur auf, um zu sehen, ob eine neue Taktstockakrobatik dieses Wunder vollbracht hätte. Ich schaute zu den Kollegen hinüber. Sie alle blickten zur Tür am Ende des Saales. Dort stand Furtwängler. Seine pure Anwesenheit genügte, um dem Orchester solche Klänge zu entlocken.“ [6]
Dietrich Fischer-Dieskau meint: „Niemand kam (..) seiner Geistigkeit und magischen Ausstrahlungskraft gleich (…).“ [7]
Wie kommt nun dieser dem Dirigenten eigene Klang zustande?
„Die Frage der ‚Technik‘ des Dirigenten (...) heißt also in Kürze: Wie mache ich es, daß ein Orchester nicht nur rhythmisch präzis zusammenspielt, sondern auch singt, singt mit all jener Freiheit, die zur Verwirklichung jeder lebendigen Gesangsphrase gehört. (...) Dies, darüber möge man sich klar sein, ist etwas höchst Seltenes. (...) Nicht der Moment des Niederschlags selbst, nicht die Genauigkeit und Schärfe, mit der dieser Niederschlag gegeben wird, ist ausschlaggebend für die im Orchester erzielte Präzision, sondern die Vorbereitung, die der Dirigent diesem Niederschlag gibt. (...) Ein Punkt bleibt immer ein Punkt; es ist selbstverständlich, daß ein Orchester, das in Punkten dirigiert wird, auch Punkte spielt, d. h. alles rein Rhythmische wird mit der erforderlichen Genauigkeit gebracht, alles Melodische aber, alles, was zwischen den einzelnen Schlägen liegt (...), wird davon nicht beeinflußt. Es ist für eine solche Interpretation dann charakteristisch – und dies ist heutzutage der häufigste Fall – , daß zwar der Rhythmus, der Takt zu seinem Recht kommt, nicht aber die Musik. Die Möglichkeit, einen Ton zu beeinflussen, liegt – das kann nicht nachdrücklich genug betont werden – durchaus in der Vorbereitung des Schlages, nicht im Schlag selbst. Das ist in dem kleinen, oftmals winzig kleinen Moment des Niederschlags, bevor der Punkt des Zusammenklangs im Orchester erreicht ist. Wie dieser Niederschlag, wie diese Vorbereitung beschaffen ist, so wird der Klang kommen, und zwar mit einer absolut gesetzmäßigen Genauigkeit. (...) Gerade dies ist der Grund, weshalb der Dirigent, der wirklich einer ist, im Konzert gar nicht die Möglichkeit hat, Bewegungen ‚für das Publikum‘ zu machen. (...) In der Vorbereitung des Schlages also liegt alle Möglichkeit des Dirigenten zur Beeinflussung des Charakters der Interpretation, der Spielweise des Orchesters (...). Dies ist denn auch der Grund, weshalb verschiedene Dirigenten – jedenfalls solche, die diesen Namen verdienen, und nicht die bloßen Taktschläger – einen je nach ihrer Individualität und nach ihrer Interpretation so verschiedenen Klang aus ein und demselben Orchester herausholen. (...) Noch kürzlich schrieb ein Kritiker über mein Konzert, das ich mit den Wiener Philharmonikern gab: ‚Bei den undeutlichen Bewegungen des Dirigenten ist es unverständlich, wieso im Orchester ein so vollendetes Ensemble zustande kommt. Eine einzige Lösung des Rätsels heißt: unendliche Proben.‘ Nein, gerade das ist nicht die Lösung des Rätsels. Die Proben, die ich mache, gehen nicht über das übliche hinaus und beschäftigen sich mit technischen, das ist mit Präzisionsfragen, so gut wie gar nicht. Gerade die Präzision ist vielmehr die natürliche Folge meines ‚undeutlichen‘ Dirigierens. Daß dieses undeutliche Dirigieren nicht undeutlich ist, zeigt sich ja schließlich gerade daran, daß der Apparat mit vollendeter Präzision funktioniert.” [8]
Christian Thielemann meint dazu: „Natürlich wollte auch er den präzisen Einsatz, aber nicht so wie aus der Pistole geschossen, sondern organisch, natürlich.“[9]
Thärichen schreibt über Furtwänglers Dirigierstil: „Ich kann mich an viele hervorragende Aufführungen erinnern, aber eine Einstudierung am Ende des Jahres 1947 war unvergleichlich: Tristan und Isolde. Am Pult stand Wilhelm Furtwängler. Das war meine erste Begegnung mit ihm. (…) Den ersten Niederschlag seines Taktstockes werde ich nie vergessen. Das Vorspiel beginnt mit einem Auftakt der Celli. Ganz langsam ließ Furtwängler seinen rechten Arm sinken. Ich war in großer Spannung, denn wie sollte bei dieser Zeichengebung jemand einsetzen können? Ich wartete – und konnte den Zeitpunkt nicht ausmachen, als sich aud dem Nichts plötzlich ein unendlich intensiver, warmer und tragender Celloton entwickelte. (…) Jeder Musiker weiß von dem Problem, bei Furtwängler den Eröffnungsakkord gemeinsam zu beginnen. (…) Die Anforderungen an die Konzentration waren beispiellos.“ [10]
Furtwängler meint, die heutzutage gelehrte und allenthalben ausgeübte Dirigiertechnik setze das Erreichen eines präzisen Zusammenspiels – eigentlich selbstverständliche Voraussetzung jeder Orchesterführung – zum End- und Selbstzweck.[11] Diese verbreitete Überbewertung der „Technik” führe, „sofern man das Entscheidende, nämlich die unmittelbare künstlerische Ausdrucksfähigkeit ins Auge faßt”[12], zu einem Qualitätsverlust: „Standardisierte Technik schafft rückwirkend standardisierte Kunst.”[13] Damit würde der Interpret den kompositorischen Anforderungen nicht mehr gerecht: „Die lebendige Wirkung der großen Meisterwerke (...) wird größtenteils illusorisch gemacht durch schlechte Aufführungen.”[14] Und die schlechte Darstellung guter Stücke sei an der Tagesordnung.[15] Furtwängler faßt zusammen: „Wir haben heute standardisierte Dirigenten, standardisierte Orchester, eine standardisierte Presse und schließlich bald auch noch ein standardisiertes Publikum.” [16]
Dazu Thielemann: „Wenn ich mir alte Aufnahmen anhöre – da klingt Furtwängler nach Furtwängler, Knappertsbusch nach Knappertsbusch, Karajan nach Karajan usw.; alle Großen sind genau voneinander zu unterscheiden. Doch wie viele von den heute berühmten Dirigenten können Sie auf Anhieb erkennen?“[17]
Die größten und tiefsten Werke erforderten nach Furtwängler darüber hinaus eine freie Interpretation aus dem Kopf. „Soll eine solche Musik einigermaßen zu ihrem Rechte kommen, so muß sie dem Reproduzierenden – man kann sagen – anliegen wie seine eigene Haut. Sie muß zu ihm gehören, er muß mit ihr eins sein; er darf sie nicht nur ‚darstellen‘, sondern muß mit ihr geradezu im eigentlichsten Sinne des Wortes verwachsen sein .” [18]
Ein Dirigent, der das hinter dem Kunstwerk stehende Lebensgefühl nicht neu zu erwecken imstande sei, könne auch das Werk nicht erwecken. Andererseits erwarte das Publikum von ihm Wirkungen; er täusche also Empfindungen vor, die er nicht habe, er spiele „Theater”. [19]
Furtwängler bemängelt die Furcht des modernen Künstlers vor sich selbst, schließlich sei Musizieren in höchstem Maße Jasagen zu sich selbst, wenn es einen Sinn haben solle.[20] Er spricht von der „Unzulänglichkeit unserer Interpreten”[21] und stellt fest, „daß man leider sagen muß, eine halbwegs zulängliche Aufführung eines klassischen Werkes gehört durchaus zu den Seltenheiten.”[22] Denn eine nur korrekte Aufführung sei eine mittelmäßige Aufführung. [23]
Thielemann: „Offenbar haben viele heute Hemmungen, das zu tun, wofür sie vorrangig da sind, nämlich ein Stück zu interpretieren.“ [24]
Auch die in der modernen Musikinterpretation oftmals angeführte „Werktreue” als der typische Ausdruck des gegenwärtigen Zeitalters bedinge keine besseren Aufführungen. Trotz genauester Anweisungen der Komponisten blieben immer noch viele Fragen der Interpretation ungelöst, und es bedürfe der subjektiven Auffassung des reproduzierenden Künstlers. Ein notengetreues Musizieren bleibe weitgehend ein gehemmtes Musizieren. Furtwängler stellt fest: „Frühere Zeiten, die statt von werkgetreu von schön oder häßlich, warm oder kalt, großartig oder kleinlich sprachen, waren der Wirklichkeit näher. Sie waren vor allem ehrlicher.” [25]
Abschließend seien noch einige grundlegende Gedanken Furtwänglers über die gesellschaftliche Stellung der Musik und die sich daraus abzuleitenden Anforderungen an den Interpreten angeführt: „Musik ist eben noch etwas anderes als bloß abstrakte, für sich selbst existierende Kunst. (...) Musik ist nämlich, wie wir alle wissen, vor allem auch Gemeinschaftserlebnis; von der Gemeinschaft her hat sie begonnen, hat sie Sinn und Zweck.”[26] In diesem Zusammenhang bemängelt Furtwängler die Entfremdung zwischen Publikum und Künstler und „wie sehr dem Künstler von heute die tiefere Verbundenheit mit allem, was ‚Volk‘ heißt, abhanden gekommen ist.”[27] „Musik wendet sich an den Menschen, an ein ‚Publikum‘, nicht an eine Gruppe sogenannter Kenner oder Fachleute.”[28] Ausgehend von der „Liebe zu meiner Heimat und meinem Volke”[29] liege es in „unserem Bestreben, Kunst und Volk einander nahezubringen.”[30] Und schließlich äußert Furtwängler „die Genugtuung, daß die Musik, unter meinen Händen zu dem wird, was sie eigentlich sein soll und muß, zu einem wahrhaftigen Gemeinschaftserlebnis.” [31]
Anmerkungen
[1] Furtwängler, Wilhelm, Vermächtnis, Wiesbaden 1956, S. 98
[2] Furtwängler, Wilhelm, Gespräche über Musik, Zürich 1949, S. 102
[3] vgl. Furtwängler, Wilhelm, Vermächtnis, Wiesbaden 1956, S. 99f
[4] Furtwängler, Wilhelm, Vermächtnis, Wiesbaden 1956, S. 110
[5] Furtwängler, Wilhelm, Vermächtnis, Wiesbaden 1956, S. 84
[6] Thärichen, Werner, Paukenschläge – Furtwängler oder Karajan?, Zürich 1987, S.23f
[7] Fischer-Dieskau, Dietrich, Jupiter und ich - Begegnungen mit Furtwängler, Berlin 2009, S. 14
[8] Furtwängler, Wilhelm, Vermächtnis, Wiesbaden 1956, S. 101ff
[9] Thielemann, Christian, zitiert nach: Nitschke, Reiner (Hrsg.), Fono Forum, Ausgabe März 1999, Euskirchen 1999, S. 29
[10] Thärichen, Werner, Paukenschläge – Furtwängler oder Karajan?, Zürich 1987, S.19f
[11] vgl. Furtwängler, Wilhelm, Vermächtnis, Wiesbaden 1956, S. 99
[12] Furtwängler, Wilhelm, Gespräche über Musik, Zürich 1949, S. 73
[13] Furtwängler, Wilhelm, Gespräche über Musik, Zürich 1949, S. 73
[14] Furtwängler, Wilhelm, Vermächtnis, Wiesbaden 1956, S. 80
[15] vgl. Furtwängler, Wilhelm, Gespräche über Musik, Zürich 1949, S. 9
[16] Furtwängler, Wilhelm, Vermächtnis, Wiesbaden 1956, S. 130
[17] Thielemann, Christian, zitiert nach: Nitschke, Reiner (Hrsg.), Fono Forum, Ausgabe März 1999, Euskirchen 1999, S. 27
[18] Furtwängler, Wilhelm, Ton und Wort, Wiesbaden 1954, S. 22
[19] vgl. Furtwängler, Wilhelm, Vermächtnis, Wiesbaden 1956, S. 111
[20] vgl. Furtwängler, Wilhelm, Gespräche über Musik, Zürich 1949, S. 97
[21] Furtwängler, Wilhelm, Gespräche über Musik, Zürich 1949, S. 47
[22] zitiert nach: Höcker, Karla, Die nie vergessenen Klänge, Erinnerungen an Wilhelm
Furtwängler, Berlin 1979, S. 182
[23] vgl. Furtwängler, Wilhelm, Ton und Wort, Wiesbaden 1954, S. 11
[24] Thielemann, Christian, zitiert nach: Nitschke, Reiner (Hrsg.), Fono Forum, Ausgabe März 1999, Euskirchen 1999, S. 27
[25] zitiert nach: Höcker, Karla, Die nie vergessenen Klänge, Erinnerungen an Wilhelm
Furtwängler, Berlin 1979, S. 182
[26] Furtwängler, Wilhelm, Ton und Wort, Wiesbaden 1954 S. 37
[27] Furtwängler, Wilhelm, Ton und Wort, Wiesbaden 1954, S. 114
[28] Furtwängler, Wilhelm, Ton und Wort, Wiesbaden 1954, S. 207
[29] Furtwängler, Wilhelm, Vermächtnis, Wiesbaden 1956, S. 40
[30] Furtwängler, Wilhelm, Ton und Wort, Wiesbaden 1954, S. 193
[31] Furtwängler, Wilhelm, Vermächtnis, Wiesbaden 1956, S. 130