Roger Kunert

Über das neue Spießertum

Über das neue Spießertum

„Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern?‘ – so fragt der letzte Mensch und blinzelt.

Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der alles klein macht. (…)

‚Wir haben das Glück erfunden‘ – sagen die letzten Menschen und blinzeln.

Sie haben die Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben: denn man braucht Wärme. Man liebt noch den Nachbar und reibt sich an ihm: denn man braucht Wärme.

Krank-werden und Mißtrauen-haben gilt ihnen sündhaft: man geht achtsam einher. Ein Tor, der noch über Steine oder Menschen stolpert! (…)

Man arbeitet noch, denn Arbeit ist eine Unterhaltung. Aber man sorgt, daß die Unterhaltung nicht angreife. (…)

Man ist klug und weiß alles, was geschehn ist: so hat man kein Ende zu spotten. Man zankt sich noch, aber man versöhnt sich bald – sonst verdirbt es den Magen.

Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit.

‚Wir haben das Glück erfunden‘ – sagen die letzten Menschen und blinzeln.“

Was Nietzsche 1883 im „Zarathustra“ beschreibt, ist keine 150 Jahre später Wirklichkeit – in Friedrichshain-Kreuzberg und anderen Hochburgen der Vielfalt: „Sie haben die Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben“ – und fahren mit dem Fahrrad in die steuerfinanzierte Projekt-Werkstatt.

„Man ist klug und weiß alles“ – beim Latte Macchiato im Szene-Café. Oder eigentlich: Man ist ziemlich beschränkt – und weiß alles besser. Und was man nicht weiß, schreibt man anderswo ab. Zuweilen auch den größten Unfug.

Doch damit nicht genug. Man wähnt sich auch im Besitz einer allumfassenden Wahrheit. Anderslautende Argumente zählen nicht; da sind Diskussion und Reflektion überflüssig. Das wäre ja nicht weiter schlimm, auch Irrenhaus-Insassen sehen das bisweilen so. Nein, man glaubt aber, mit seiner „Wahrheit“ alle Welt missionieren zu müssen – aus dem kleinkarierten Kietz-Blickwinkel heraus. „Wir haben das Glück erfunden“ – und alle sollen nach dieser Pfeife tanzen. Auch wenn die Erde keine Scheibe mehr ist … Da hört dann die vielbeschworene Vielfalt und Toleranz schnell auf.

Tatsachen werden unbesehen beiseitegeschoben, wenn es nur hübsch ins gemütlich-spießige Weltbild paßt. Man begreift wenig und weiß nicht viel mehr, aber man glaubt umso fester. Die Vergangenheit wird ebenfalls nicht verschont, auch wenn man keine Ahnung davon hat.

Dabei überhört man geflissentlich das Lachen, das aus dem wirklichen Leben herüberschallt. Aber mit Lachen hat man es ohnehin nicht so. In verbiesterter Inquisitionsmanier hält man es nicht so sehr mit Humor. Man hat schließlich „das Glück erfunden“ – und zündet den Scheiterhaufen an.

Man wird sehr böse, wenn nicht alle dieses „Glück“ begreifen wollen. Da schwingt der neue Spießer schnell die Moral- und andere Keulen – und tritt in die Pedale. Um die Welt zu retten. Darunter geht es nicht. „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“. Obwohl – mit „deutsch“ hat man es ja auch nicht so. Womit hat man es? –

Vielleicht mit Bouletten aus Kichererbsen- oder Lachs aus Reismehl. Oje, sollen sie damit „glücklich“ werden, Mann und Frau und sonstwas – aber alle anderen in Ruhe lassen! Bullerbü ist ein Kinderland: „Ich mach' mir die Welt – widdewiddet – wie sie mir gefällt ....“ Ob die Welt das will?

„Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die Weltanschauung der Leute, welche die Welt nicht angeschaut haben.“ sagt Alexander von Humboldt.

Dafür haben sie „das Glück erfunden“ und blinzeln – doch wer möchte dieses Elend teilen?

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