Roger Kunert

Über Literatur und die Aufgabe des Schriftstellers

Über Literatur und die Aufgabe des Schriftstellers

 

Da das Denken als höchstes Produkt des menschlichen Gehirns untrennbar mit der Sprache verbunden ist, nimmt die Literatur innerhalb der Kunst und damit auch im gesellschaftlichen Leben eine hervorragende und zen­tra­le Stellung ein. Stalin bezeichnet die Schriftsteller – durchaus zutreffend – als die „Ingenieure der menschlichen Seele“[1]. Aus dieser Funktion der Literatur entsteht – ganz be­sonders in Zeiten gesellschaftlicher Veränderungen – die spezielle Beru­fung des Schriftstellers, die geistige Arbeit zur Gestaltung der Wirklichkeit zu leisten. Eine in diesem Sinne le­bensbejahende Literatur zeichnet sich folglich dadurch aus, daß bei ihr Philosophie und Dichtung – Ver-Dichtung des Lebens – ineinandergehen. Es entsteht die Forderung an den Schriftsteller, sich – unter Ver­zicht auf jegliche Bequemlichkeit – dem Leben leidenschaftlich hinzugeben und dabei über sich selbst hinaus zu erleben.

Dem gegenüber steht der intellektuell-künstliche, letztendlich weltabgewandte Individualismus des Formalis­mus, der die Kunst – nicht nur die Literatur – aus jeglichem gesellschaftlichen Lebenszusam­menhang herausreißt, aus der Wirklichkeit in den Nihilismus flüchtet und durch seine inhaltliche Verarmung letzt­lich zur Isolierung der be­treffenden Kunstart führt.

Nietzsche schreibt: „ ‚Die Kunst um der Kunst willen‘ (...) läuft auf eine Realitäts-Verleumdung (‚Idealisierung‘ ins Häßliche) hinaus. Wenn man ein Ideal ablöst vom Wirklichen, so stößt man das Wirkliche hinab, man verarmt es, man verleumdet es.“[2] Der Formalismus ist Ausdruck einer ihm zugrunde­liegenden lebensfeindlichen Moral; und zwar der letzten Phase dieser Moral: ein Produkt der Agonie. Die Dekadenz der modernen nihilistischen Literatur, die aus dem Niedergang des christlich-humanistischen Wertesystems herrührt, ist charakteristisch für den Zustand der „bürgerlichen“ Kultur in der Gegenwart. Für den Verfall dieser Literatur sprechen unter anderem die Abstraktation des Textes bis hin zur Unverständlichkeit, das Schwel­gen im Mystizismus, die Verkindlichung des Sujets, die Bevorzugung des Abnormen. Demzufolge sind Phantasiegestalten, Detektive, gesellschaftliche Randgruppen und dergleichen die „Helden“ dieser Literatur. So verwundert es nicht, wenn sich der im oben genannten Sinn „lebensbejahende“ Mensch von dieser Art Kunst und Literatur abwendet.

Schon Goethe stellt fest: „Die Poeten schreiben alle, als wären sie krank und die ganze Welt ein Lazarett. Alle sprechen sie von den Leiden und dem Jammer der Erde und von den Freuden des Jenseits, und unzufrieden wie schon alle sind, hetzt einer den andern in noch größere Unzufriedenheit hinein. Das ist ein wahrer Mißbrauch der Poesie, die uns doch eigentlich dazu gegeben ist, um die kleinen Zwiste des Lebens auszugleichen und den Menschen mit der Welt und seinem Zustande zufrieden zu machen. Aber die jetzige Generation fürchtet sich vor aller echten Kraft, und nur bei der Schwäche ist es ihr gemütlich und poetisch zu Sinne. (…) Ich will ihre Poesie die Lazarett-Poesie nennen; dagegen die echte tyrtäische diejenige, die nicht bloß Schlachtlieder singt, sondern auch den Menschen mit Mut ausrüstet, die Kämpfe des Lebens zu bestehen.“ [3] 

Der Schrift­steller kann nicht beiseitestehen; er muß sich philosophisch denkend entscheiden, um bei den großen Herausforderungen der Zeit mitwirken zu können. So wird die von ihm geschaffene Kunst durchaus tendenziös sein müssen.

Hans Grimm formuliert dies folgendermaßen: „Daß die schreibende Kunst wie jede Kunst keine Zwecksetzung kennen dürfe, wird vom Literatentum der Zeit gern erklärt. Hinter der halben, mit dunklem Wortschwall vorgetragenen Wahrheit verbirgt sich un­bewußt und bewußt die Drückebergerei des Schreibtischmenschen vor dem Ernst, vor der Härte, vor der Schwierigkeit, aber auch vor der Größe und Tiefe des gegenwärtigen Gemein­schaftslebens. (...) Der Ausdruck erotischer, morbider, spielerischer Erlebnisse, oder viel häufi­ger erotischer, morbider, spielerischer Phantasien, wie sie alle beweglichen und nicht voll be­schäftigten Menschen haben (...), bedeutet ihnen künstlerische Tat.“ [4] 

Die wahre künstle­rische Tat besteht jedoch in der Gestaltung der menschlich-relevanten Tatsachen. Schon in der Antike wurde die gesellschaftlich-gestaltende Rolle der Literatur er­kannt. Eine lebensverbundene Literatur erfordert die Einheit des künstleri­schen Schaffens mit der Lebensganzheit; sie steht mit beiden Beinen auf dem Boden des realen Lebens. Als Material des dichterischen Schaffens kann und muß dabei die ganze Vielfalt des Lebens dienen, die wirkliche Welt ebenso wie die darin enthaltene Welt der menschlichen Gefühle.

Nochmals Nietzsche: „Von allem Geschriebenen liebe ich nur das, was einer mit seinem Blute schreibt. Schreibe mit Blut: und du wirst erfahren, daß Blut Geist ist.“ [5]

Es geht darum, den Hauptsinn aus der Gesamtheit der Lebenswirklichkeiten zu extrahieren und ihn in einer Gestalt zu verdichten. Dabei können und müssen die Formen des dichterischen Schaffens die vielfältigsten sein, d. h. individuell in der Form, lebensbejahend in der Grundidee.. Es ist demzu­folge sinnvoll und notwendig, daß es sowohl Schriftsteller für eine Millionenleserschaft als auch solche für nur wenige Leser gibt.

Aus alledem folgt, daß die Literatur im heimischen Boden wurzeln muß. Der seiner Gesellschaft verbundene Schriftsteller schöpft aus dem Kulturgut und der Sprachtradition der Jahrhunderte und Jahrtausende, nicht ohne bis zu einem gewissen Grad auch Erfahrungen anderer Kulturen einfließen zu lassen.

Da nun die Kunst – und hier vor allem die Sprache – eine Sache der jeweiligen Gesellschaft bzw. des jeweiligen Volkes ist, muß in der Literatur folgerichtig auch die kräftige Sprache des Volkes zur Anwendung kommen.

Dazu sagt Bucharin: „Sie ist, wenn man so will, im Vergleich zur Literatursprache primitiv. Doch ist das nicht der gewollte, künstliche Primitivismus der verfei­nerten, seelenlosen Vertreter einer erschlafften Kultur, die von ermü­dender Kompliziertheit und Geschraubtheit einer hypertrophierten Künstlichkeit weg zu den karikaturenhaften Zeich­nungen der Buschmänner, zu Negertänzen usw. hingezogen wird, was an das idiotische Gelalle der Erwachsenen vor Kindern erinnert. Dies ist ein gesunder, berech­tigter Primitivismus (...).“[6] Eine solche in der Tradition wurzelnde und diese weiterentwickelnde Sprache ist gewissermaßen eine Sprache der „höheren Einfachheit“.

Die Bedeutung der Sprache für die Literatur ist ersichtlich. Und schließlich ist Literatur ein Aspekt der Kultur, und Kultur basiert auf Sprache. Denn Erkenntnis, das heißt: Bewußtwerden und Artikulieren von Erfahrung, ist überhaupt nur möglich durch Denken; letzteres nur durch Sprache. Darum ist die Ausprägung der Sprache zwangsläufig der Gradmesser für Denkbarkeit. Eine quantitativ und qualitativ beschränkte Sprache bedeutet eine beschränkte Denkbarkeit. Die Höhe der erreichten Sprachentwicklung zeugt somit vom Stand der Kultur. Hierin liegt die Herausforderung für den Schriftsteller und auch seine besondere Verantwortung.

Um die Kraft und Wirkung des Wortes erzielen zu können, bedarf es eines besonderen Typus des Dichters. Da jeder Schriftsteller bis zu einem gewissen Grade ein Führer seiner Leser ist, darf er kein passiver Beobachter sondern muß er ein aktiver Teilnehmer am Gemeinschaftsleben sein. Er hat – entsprechend seiner Fähig­keit, alle Höhen und Tiefen menschlicher Leidenschaf­ten empfinden zu können – eine außerge­wöhnliche Persönlichkeit zu sein, die sich ständig durch Selbstkritik und Selbsterziehung überwindet und weiterentwickelt. Ohne beharrliche Arbeit an sich selbst, ohne beständige Erweiterung seines Wissens, ohne Beherrschung philosophischer Einsichten kann ein Schriftsteller keine lebensbejahende Dichtung hervorbringen.

Zwangsläufig wird er sich dabei auch im stärk­sten Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft stets in einem Verhältnis des Gegensatzes und der Spannung befinden; das aber ist immer nur ein Scheinkonflikt. Während die gesellschaftliche Ordnung das Beharren liebt und jegliche Veränderung ablehnt, zeigt der Schriftsteller die fruchtbaren und so lebenswichtigen Entwicklungsnotwendigkeiten auf. Er wirkt damit im vollen Einvernehmen mit den tiefsten Bedürfnissen der Gesellschaft, die sonst in einen Zustand der Lethargie verfiele.

So wird lebensbejahende Literatur etwas sehr Schöpferisches. Insofern die Schriftsteller die „Ingenieure der Seele“ sind, darf man nicht vergessen, daß die höchste Aufgabe des Ingenieurs das Erfinden ist. Kunst bedeutet demzufolge Überwindung und Er­oberung – Eroberung der Ge­fühle und der Mittel, sie zum Ausdruck zu bringen; Überwindung des Mangels an Bewußtsein, und oftmals auch der Logik.

Schiller schreibt in seiner Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung“, daß „die Erhebung der Wirklichkeit zum Ideal oder, was auf Eins hinausläuft, die Darstellung des Ideals den Dichter machen muß.“ [7]

Eine solche Literatur ist erfüllt von Lebensdrang und Optimismus, aber nicht nur aus einer dionysischen inneren Empfindung heraus. Sie ist stark, weil sie der goethisch-tyrtäischen Lebensgestaltung entspricht.

 

Anmerkungen


[1] Stalin, Josef, Werke, Bd. 13, Hamburg 1971, S. 362

[2] Nietzsche, Friedrich, Der Wille zur Macht, Leipzig 1930, S. 210

[3] Goethe, Johann Wolfgang, zitiert nach: Eckermann, Johann Peter, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, Berlin 1911, S. 199f

[4] Grimm, Hans, Der Schriftsteller und die Zeit, München 1931, S. 58

[5] Nietzsche, Friedrich, Also sprach Zarathustra, Aus dem Nachlaß 1882-1885, Leipzig 1925, S. 56

[6] zitiert nach: H.-J. Schmitt / G. Schramm (Hrsg.), Sozialistische Realismuskonzeptionen, Dokumente zum 1. Allunionskongreß der Sowjetschriftsteller, Frankfurt / M 1974, S. 313

[7] Schiller, Friedrich, Sämtliche Werke in zwölf Bänden, Leipzig o. J., Band 12, S. 106

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