Roger Kunert

Das neue Südafrika

Das neue Südafrika

Als Nelson Mandela 1994 südafrikanischer Präsident wird, jubelt die Welt, und seine versöhnlichen Worte lassen Hoffnung auf eine friedliche und gedeihliche Zukunft Südafrikas aufkommen: „Um mit einem Gegner Frieden zu schließen, muß man mit ihm zusammenarbeiten, und der Gegner wird dein Freund.“[1]

Sein großes Projekt lautet Versöhnung: „Von dem Augenblick an, da die Wahlergebnisse feststanden und es offenkundig war, daß der ANC [African National Congress] die Regierung bilden würde, sah ich meine Mission darin, für Versöhnung zu werben, die Wunden des Landes zu pflegen, Vertrauen und Zuversicht zu stärken. Ich wußte, daß viele Menschen, vor allem die Minderheiten, Weiße, Farbige und Inder, mit Angst in die Zukunft schauten, und ich wünschte mir, daß sie sich sicher fühlten. Ich erinnerte die Menschen immer und immer wieder daran, daß der Freiheitskampf nicht ein Kampf gegen irgendeine Gruppe oder Hautfarbe war, sondern ein Kampf gegen ein Unterdrückungssystem. Bei jeder Gelegenheit erklärte ich, alle Südafrikaner müßten nun zusammenfinden, sich die Hand reichen und verkünden, daß wir ein Land seien, eine Nation, ein Volk, und daß wir gemeinsam in die Zukunft gingen.“[2]

Und es scheint, daß er aus den Erfahrungen in anderen schwarzafrikanischen Ländern Konsequenzen gezogen hat: „Weißen Zuhörern erklärte ich, daß wir sie brauchten und nicht wollten, daß sie das Land verließen. Sie wären Südafrikaner wie wir und dies sei auch ihr Land. Ich beschönigte keineswegs die Schrecken der Apartheid, doch ich erklärte auch wieder und wieder, daß wir die Vergangenheit vergessen und uns auf die Bildung einer besseren Zukunft für alle konzentrieren sollten.“[3]

Doch schon bald nach der Machtübernahme durch den ANC wird eine Politik der „positiven Diskriminierung“ per Gesetz eingeführt: Affirmative Action und Black Economic Empowerment.

Für Führungspositionen in Verwaltung und privaten Unternehmen werden Mindestquoten für Nicht-Weiße, für verschiedene Wirtschaftsbereiche eine Mindestquote von Unternehmensanteilen im Besitz von Nicht-Weißen eingeführt.[4]

„Affirmative Action bedeutet, daß überall Schwarze bevorzugt eingestellt und vor allem in Führungsetagen gehievt werden. Dazu gibt es für die Privatwirtschaft konkrete Vorgaben des Staates, die festlegen, daß bis zu 60 Prozent der Posten an Nichtweiße zu vergeben sind. Und Black Economic Empowerment soll die Besitzverhältnisse der einst nahezu blütenweißen Industrie so verändern, daß zunächst zehn, bald 25 und langfristig bis zu 50 Prozent der Unternehmen in schwarzem Besitz zu sein haben. (…) Das heißt, es wird keine Produktivität vermehrt, sondern nur die Hautfarbe geändert. Und es entsteht eine sehr kleine, aber eng mit dem regierenden ANC verbundene neue Schicht von schwarzen Unternehmern, die überall beteiligt sind und über Nacht zu Multimillionären wurden. (…) Angesichts der Neureichen des ANC in der Wirtschaft glauben auch die neuen Staatsbediensteten, kräftig zulangen zu können. Sie vergeben lukrative Aufträge an Verwandte, die die oft gar nicht erfüllen können, stellen Freunde ein, sind offen für Geldgeschenke von Leuten, die etwas von ihnen wollen und greifen auch selbst in die Kasse.“[5]

So steigt beispielsweise zwischen 1994 und 1999 der Anteil von Schwarzen im Management des öffentlichen Dienstes von zwei auf 35 Prozent.[6]

Die Qualifikation der Schwarzen wird auf einfache Weise erzielt: „Ein weißes Kind muß in der Abschlußprüfung mindestens 97 Prozent der Ergebnisse erreichen, (…) einem schwarzen Kind genügen dagegen schon 75 Prozent, um die Universität besuchen zu dürfen.“[7]

Und langsam schiebt sich – international schwärmt man noch immer von der neuen „Regenbogennation“ – eine andere Wirklichkeit ins Bild.

Peter Scholl-Latour schreibt 2001: „Südafrika befindet sich in einem Wandlungsprozeß, der sich allen Prognosen entzieht. Aber ich kann nicht umhin, der verzerrten Darstellung dieser Weltregion, der systematischen Schönrederei wenigstens in ein paar Punkten entgegenzutreten.“[8]

Und Martin Pabst stellt 1997, also noch zur Amtszeit von Mandela, fest:

„Bedrohliche Zeichen von Staatszerfall machen sich bemerkbar. Sicherheit wird privatisiert – der Staat gibt damit eine seiner wesentlichsten Funktionen zumindest partiell auf und teilt sein Gewaltmonopol mit anderen. Sicher ist in einem solchen System nur derjenige, der sich Sicherheit leisten kann. Damit wird wiederum eine Zwei-Klassen-Gesellschaft etabliert.“[9]

„Insbesondere in der Provinz Ostkap, zu der die ehemaligen Homelands Ciskei und Transkei gehören, ist die Verwaltung teilweise zusammengebrochen.“[10]

Ein weiteres wichtiges Reformvorhaben der schwarzen Regierung Südafrikas ist die Umverteilung eines Großteils des landwirtschaftlich nutzbaren Landes an Schwarze.

Thomas Scheen schreibt 2008: „Selbst das Landwirtschaftsministerium gibt inzwischen zu, daß bis zu 50 Prozent der Farmen, die an Schwarze vergeben wurden, nichts mehr produzieren. Die weißen Farmer sprechen von bis zu 80 Prozent. Es gibt mehr als genug Beispiele von hochprofitablen Mango- und Zitrusplantagen, auf denen die neuen Besitzer die Bäume fällten, um sie als Brennholz zu verkaufen. In einigen Regionen Südafrikas hat die Umverteilung von Land bereits zu dramatischen Produktionsausfällen geführt. (…) Auf den Farmen wächst Unkraut statt Tomaten und Salat. Es ist bewässertes Land darunter, doch die Bewässerungsmaschinen sind gefleddert. Die neuen Landbesitzer haben die Wellblechdächer der Farmhäuser abmontiert und sich daraus Hütten gebaut, in denen sie jetzt leben.“[11]

Das ist für Kenner der Materie keine neue Erfahrung. Schon dreißig Jahre vorher stellt Bruno Bandulet fest:

„Der südafrikanische Politiker Odendaal, nach dem der ganze Plan später benannt wurde, hatte 1964 die Idee, in der früheren deutschen Kolonie [Südwestafrika, damals von Südafrika verwaltet, heute Namibia] Farmen von Weißen aufzukaufen und sie an Schwarze zu verteilen. Die Farmer durften nur ihre persönliche Habe mitnehmen, alles andere mußten sie zurücklassen. (…) Die künftigen schwarzen Farmer erhielten eine gründliche Ausbildung, weiße Experten besuchten auch später die Farmen, es wurden ständige Beratungsstellen eingerichtet. Und doch war das Projekt alles in allem eine Fehlinvestition. Die meisten Schwarzen – es gab nur wenige Ausnahmen – zeigten sich dem schwierigen Geschäft eines Farmbetriebes auf den kargen Böden Südwestafrikas nicht gewachsen.

Am schnellsten verwahrlosten die Farmgebäude. Die Schwarzen rissen Fensterrahmen, Dachbalken und Türen heraus und verwendeten sie zum Feuermachen. Sie deckten das Wellblech der Dächer ab, um sich neben den früheren Wohngebäuden ihre gewohnten Hütten zu bauen, die sie gemütlicher fanden. Vor allem aber verschlechterte sich der Zustand der Herden.

Dazu muß man wissen, daß die Viehwirtschaft in einem trockenen Land wie Südwestafrika ein hohes Maß an Disziplin, Planung und Fachwissen verlangt. Das beginnt mit einer exakten Weideeinteilung. Das Gelände der Farmen ist mit Zäunen unterteilt. Während das Vieh auf einem bestimmten Areal weidet, werden andere Flächen gesperrt, damit sich die Vegetation von der Nutzung erholen kann. Oder ein Teil der Weiden bleibt, als Reserve für Trockenzeiten, völlig ungenutzt. Prekär ist auch stets der Wasserhaushalt. Die Niederschläge in fast ganz Südwestafrika sind extrem niedrig. Fruchtbares, grünes Land befindet sich nur im Ovamboland an der Grenze zu Angola, das ausschließlich den Schwarzen vorbehalten ist. Auf den europäischen Farmen gibt es hier und da einen Tümpel, aber der größte Teil des Wassers muß mit Windmotoren aus der Tiefe gepumpt werden.

Nach wenigen Jahren schon sah das Vieh so aus wie fast überall in Afrika: abgemagert, mit schlechter Kondition und geringem Verkaufswert. Die neuen Farmer konnten sich an die strenge Weideeinteilung nicht gewöhnen, die Böden waren abgegrast, Erosion setzte ein. Die Rinder weideten, wo sie wollten, weil die Zäune verfallen waren. (…) Und das Wasser wurde knapp, weil die Windmotoren ohne Ölwechsel durchbrannten und die Aluminiumschaufeln der Windräder abmontiert und für andere Zwecke verwendet wurden. Die afrikanischen Bauern hatten ihren neuen Besitz nicht als Chance und Herausforderung verstanden, sondern als erfreuliche Mitgift für ein bequemeres Leben. Sie waren jetzt reich, sie stellten Diener ein (stets aus anderen Stämmen), sie waren Respektspersonen – und eine Respektsperson arbeitet nicht in Afrika. In Europa würde so etwas als Faulheit ausgelegt, aber der westliche Begriff paßt nicht in eine Kultur, in der harte Arbeit, Sparsamkeit und puritanischer Erwerbssinn noch nie als Tugenden galten.“[12]

Und wie entwickeln sich die allgemeinen Lebensumstände in Südafrika?

Scholl-Latour stellt 2001 fest: „Im Zentralpark von Pretoria ist die Bronze-Statue des Ohm Krüger intakt geblieben, und auf seinem Zylinder hält sich stets eine Taube auf. Aber ringsum auf dem sauber gemähten Rasen lagert die schwarze Freizeitgesellschaft. (…) Die wenigen Weißen, die aus beruflichen Gründen die ehemaligen Geschäftszentren noch aufsuchen müssen, wirken wie flüchtiges Wild, verharren – wo immer es geht – im relativen Schutz ihrer Auto-Karosserie.“[13]

„In den wenigen Geschäften, in denen sich allen Widrigkeiten zum Trotz ein paar Inder oder Pakistani behaupten, wird nur Ramsch angeboten, ‚Kaffern-Ware’, wie die Buren einst verächtlich sagten.“[14]

Scholl-Latour versteht nicht die Ignoranz deutscher Politiker, wenn er schreibt:

„Die krampfhafte Euphorie, die parlamentarische Besuchsdelegationen aus Berlin gern an den Tag legen, wenn sie dieses angeblich gelungene Experiment multikulturellen Zusammenlebens besichtigen, wird von den schwarzen Intellektuellen Südafrikas in keiner Weise geteilt. (…) Vor allem eine Gruppe hochrenommierter schwarzer Professoren der ‚University of South Africa’ von Johannesburg – die Namen verschweige ich wohlweislich – überrascht mich mit ihren zutiefst pessimistischen Prognosen.“[15]

Und hart geht er mit der Berichterstattung der Medien ins Gericht:

„Für die westlichen Medien ist Südafrika offenbar eine ‚heilige Kuh’. Nirgendwo hat sich unsere Informationsgesellschaft so gründlich blamiert wie bei der Schilderung der dortigen angeblich idyllischen Verhältnisse. Der Zorn der Kommentatoren konzentriert sich hingegen auf den nördlichen Nachbarn Simbabwe und dessen Präsidenten Robert Mugabe (…) Wenn die Nacht sich über Pretoria senkt, stellt sich die Angst ein, offenbart sich eine unheimliche Wirklichkeit. Die riesige Geschäftsmetropole Johannesburg ist längst von allen Weißen verlassen worden. Aber auch in der ehemaligen Buren-Hochburg Pretoria lebt heute eine ausschließlich schwarze Bevölkerung, soweit die Bantu, die vor der Anonymität der großen verlassenen Gebäude zurückschrecken, überhaupt bereit sind, sich dort einzuquartieren. (…) Die Weißen von Johannesburg und Pretoria haben sich in eine neue Form von ‚Laager’-Mentalität zurückgezogen. Weit weg von den Stadtkernen haben sie sogenannte ‚Compounds’ gebaut mit eigenen Geschäften, Schulen, Kirchen und Clubs. Das ganze ist durch perfektionierte Elektronik und private Sicherheitsdienste abgeschirmt. Aber selbst die ausländischen Diplomaten bangen jede Nacht, ob sich nicht doch eine Rotte schwarzer Gewalttäter ihrem Anwesen nähert. ‚Wenn die einmal im Haus sind’, so wurde mir übereinstimmend berichtet, ‚gibt es keine Rettung mehr; dann wird jeder Europäer erschlagen, jede weiße Frau – vom zweijährigen Kleinkind bis zur achtzigjährigen Greisin – vergewaltigt.’“[16]

Pabst schreibt: „Südafrika, das Land der Weite und individuellen Freiheit, wird zu einem Land der Barrieren: Die Weißen leben hinter hohen Mauern und umgeben sich mit Alarmanlagen; Vororte werden umzäunt und mit Zugangskontrollen versehen. Als Folge haben private Sicherheitsunternehmen Konjunktur. (…) In weißen Wohngebieten entstehen seit 1997 die ersten privat gesponsorten Polizeistationen.“[17]

„Die Kriminalitätsrate ist extrem hoch und erfordert Zusatzkosten im Sicherheitsbereich. Ausländische Manager wurden häufig Opfer von Gewaltkriminalität, was die Bereitschaft, beruflich nach Südafrika zu wechseln, dämpft.“[18]

„Eine (…) Studie der Deutschen Industrie- und Handelskammer ergab 1997, daß in den letzten beiden Jahren über die Hälfte der Familien der leitenden Manager deutscher Firmen mindestens einmal Opfer von Kriminalität geworden war. In mehr als einem von vier Vorfällen wurden Schußwaffen verwendet. 20% der befragten Firmen gaben an, daß in den letzten zwei Jahren Mitarbeiter ermordet wurden.“[19]

„Nach dem vergleichsweise unblutigen Machtwechsel kamen in Südafrika wie im Ausland Begeisterung und Euphorie auf. Doch bald wichen sie Ernüchterung: Gewaltkriminalität, Korruption und Staatszerfall bedrohen Südafrika heute genauso wie zuvor die Gefahr eines politisch motivierten Bürgerkrieges. (…) Anfang September 1996 räumte Staatspräsident Mandela ein, daß die Kriminalität außer Kontrolle geraten sei. In der Tat haben Gewaltverbrechen seit der politischen Liberalisierung massiv zugenommen: Von 1989 bis 1995 war die Zahl der Morde von 11.750 auf 18.983 angestiegen, der bewaffneten Raubüberfälle von 30.498 auf 66.838, der (angezeigten) Vergewaltigungen von 20.458 auf 36.888. Südafrika gilt heute als das gewalttätigste aller nicht in einem Krieg befindlichen Länder. Im Großraum Johannesburg fanden 1996 täglich etwa 50 Morde, 200 Raubüberfälle und 50 Autoentführungen statt. Alle 14 Minuten wurde 1996 in Südafrika eine Frau vergewaltigt – die Quote ist drei Mal höher als in den USA und zwölf Mal höher als in Deutschland. Ein trauriges Charakteristikum ist die Brutalität der Täter: Einbrüche finden häufig in Anwesenheit der Hausbesitzer statt, da die Täter dadurch keine Probleme mit Alarmanlagen bekommen. Schuß- und Stichwaffen werden rücksichtslos und ohne Not eingesetzt. Selbst 80jährige Frauen werden bei Raubüberfällen brutal mißhandelt oder vergewaltigt. Eine südafrikanische Spezialität sind gewaltsame Autoentführungen (car-napping), bei denen der Täter mit vorgehaltener Waffe an einer Kreuzung in den Wagen springt. Die Insassen können dabei von Glück reden, wenn sie unverletzt fliehen dürfen. Nicht selten werden sie verletzt oder ermordet, Fahrerinnen vergewaltigt und irgendwo ausgesetzt.“[20]

„Auf dem Land ist die Gewaltkriminalität in manchen Regionen ebenfalls an der Tagesordnung: Im Jahr 1996 wurden 468 Farmen überfallen und dabei 109 Menschen getötet, zur einen Hälfte weiße Farmer und deren Angehörige, zur anderen Hälfte schwarze und farbige Angestellte. (…) Wie einst im kriegszerrütteten Rhodesien sind zahlreiche Farmen durch elektrische Zäune gesichert, die Farmer und ihre Frauen ständig bewaffnet.“[21]

2001 schreibt Scholl-Latour: „Sowohl bei den Regierungsbehörden als auch bei den ausländischen Vertretungen habe ich mir die präzisen Statistiken verschafft. Seit dem Zusammenbruch des Apartheid-Regimes wurden in Südafrika – überwiegend in isolierten Farmen – über 1.100 Weiße umgebracht; 5.500 Überfälle fanden statt. An dieser Zahl gemessen sind die britischen Kolonisten in Simbabwe recht glimpflich davongekommen. Genaue Angaben über die schwarzen Opfer der blutigen Anarchie, die sich bei Dunkelheit der afrikanischen Stadtviertel bemächtigt, liegen nicht vor.“[22]

Und 2012 berichtet „Die Zeit“ von „mehr als 3.000 Opfern, die seit 1991 auf den Bauernhöfen Südafrikas ermordet wurden, seit dem Beginn der demokratischen Reformen, die das Ende der Apartheid besiegelten. Unter den Toten sind schwarze Farmarbeiter, Hausangestellte und Familienangehörige, vor allem aber weiße Farmer, insgesamt sollen es nahezu 1.900 sein. (…) Fest steht, daß es in den vergangenen zwanzig Jahren zu weit über 12.000 Überfällen auf Gehöfte kam. Und daß kaum eine Woche vergeht, in der nicht irgendwo im Hinterland ein Bauer umgebracht wird. (…) Von Völkermord ist die Rede, von der gezielten Ausrottung der Farmer mit europäischen Vorfahren, insbesondere der Buren, die von holländischen, deutschen oder französisch-hugenottischen Einwanderern abstammen. (…) Viele Landwirte halten die ständige Bedrohung nicht mehr aus und geben auf. Vor zwanzig Jahren gab es in Südafrika noch 62.000 Farmen, heute sind es nur noch knapp 40.000.“[23]

Die Wirklichkeit läßt Mandela hilflos erscheinen, der 1994 fordert: „Das Verbrechen müsse unter Kontrolle gebracht werden. Ich sagte ihnen, ich hätte von Kriminellen gehört, die sich als Freiheitskämpfer verkleideten, unschuldige Menschen belästigten und Fahrzeuge in Brand steckten; diese Gauner hätten keinen Platz in unserem Kampf. Freiheit ohne Kultur, Freiheit ohne die Möglichkeit, in Frieden zu leben, sei keine wirkliche Freiheit.“[24]

Die Auswirkungen lassen nicht lange auf sich warten: Südafrika – früher Traumziel gutausgebildeter Einwanderer – wird zum Auswandererland.

„Viele Weiße suchen ihre Zukunft außerhalb Südafrikas und emigrieren. Innerhalb von fünf Jahren, so erklärte kürzlich [2005] der letzte weiße Präsident Südafrikas, Frederik Willem de Klerk, hätte fast eine Viertelmillion der Heimat den Rücken gekehrt. In ihrer Mehrheit handelte es sich um hochqualifizierte Fachleute oder junge Universitätsabsolventen.“[25]

„Aus Sorge um die eigene Zukunft ist der Pioniergeist erwacht, die Buren brechen wieder auf, wie damals, im 19. Jahrhundert. Der neue Treck führt sie nach Sambia, Botsuana, Mosambik und in den Kongo, sogar nach Georgien entsandte der südafrikanische Farmerverband eine Mission.“[26]

Scholl-Latour stellt fest: „Der große Exodus der alteingesessenen Europäer hat ja längst begonnen. (…) die großen internationalen Konzerne – an ihrer Spitze Anglo-American und de Beers – [haben] ihre Hauptsitze aus Johannesburg weg nach Montreal oder London verlagert.“[27]

Diese Abwanderung – von manchen vielleicht mit „Afrika den Afrikanern“ begrüßt – fällt als Problem umgehend auf die Schwarzen zurück: Die geschlossenen Betriebe und verwaisten Farmen bieten keine Arbeitsplätze mehr; ausländische Investoren, die Arbeitskräfte benötigen könnten, werden abgeschreckt; sowohl die landwirtschaftliche als auch die industrielle Produktivität sinkt; das Bruttosozialprodukt verringert sich; der finanzielle Spielraum des Staates für dringend erforderliche Investitionen in die Infrastruktur – Wohnungsbau, Wasser- und Energieversorgung, Gesundheitsfürsorge usw. – wird in Folge dessen enger.

Die Entwicklung ist vielleicht nicht ganz so rabiat wie in Simbabwe, der Weg führt aber in die gleiche Richtung. Das Ergebnis ist leider allzu bekannt: Man vergißt, daß eine Minderheit von Leistungsträgern den Großteil der Wirtschaft belebt und damit den Wohlstand der Nation bewirkt.

Aber eine Besonderheit, eine große Unbekannte, gibt es noch in der Rechnung.

„Der apokalyptische Reiter Südafrikas trägt die vier Buchstaben ‚AIDS’ auf seinem Schild. Konservativen Schätzungen zufolge sind im Jahr 2001 zirka zwanzig Prozent der Gesamtbevölkerung HIV-positiv, das entspricht einer Zahl von neun Millionen Opfern. Täglich werden zweihundert HIV-infizierte Babys geboren. In solchem Ausmaß ist Südafrika von dieser Seuche heimgesucht, daß der natürliche Bevölkerungszuwachs von jährlich 2,2 Prozent auf Null reduziert wurde.“[28]

2013 schreibt „Der Spiegel“: „Südafrika gehört zu den Ländern mit den höchsten Aids- und HIV-Raten weltweit. Laut offiziellen Angaben sind dort sechs Millionen Menschen mit HIV infiziert, bei einer Gesamtbevölkerung von 50 Millionen. 2012 starben etwa 260.000 Menschen an den Folgen von Aids. (…) 28 Prozent aller Schülerinnen in dem Land sind HIV-positiv. (…) Eine Untersuchung in der Provinz Ostkap hatte vergangenes Jahr enthüllt, wie Mädchen im Alter von etwa zwölf Jahren gezwungen werden, ältere HIV-positive Männer zu heiraten. Manche glauben daran, daß Sex mit Jungfrauen sie heilen kann.“[29]

Und der südafrikanische Präsident Zuma hat das Problem im Griff, indem „er öffentlich bekundete, sich gegen eine mögliche Übertragung des HI-Virus mit Hilfe einer heißen Dusche geschützt zu haben.“[30]

Darüber hinaus kursiert in Afrika die Theorie, „daß es sich bei Aids um eine konzertierte Aktion gegen Schwarze handele. In Afrika wird diese Vermutung schon deshalb oft geglaubt, weil sich viele Afrikaner in der Rolle der Opfer sehen. (…) So behauptete die inzwischen verstorbene kenianische Friedensnobelpreisträgerin Wangari Maathai, Aids sei in westlichen Labors erfunden worden, um die schwarze Rasse vom Erdball zu tilgen.“[31]

„Tatsache ist, daß der starke Geschlechtstrieb der Afrikaner, auf den sie stolz sind und der auch von den schwarzen Frauen als Test der Männlichkeit gefordert wird, oft kultische Formen annimmt. Wer sich für den Exhibitionismus der Love Parade in Berlin begeistert, sollte sich mit überheblicher Kritik zurückhalten. Die Werbung für Kondome stößt bei einer Bevölkerung auf taube Ohren, die in der Präservativ-Benutzung eine Minderung des sexuellen Genusses sieht, der einzigen Freude, die ihr in ihrem dürftigen Dasein geboten wird. Zudem verhindert das Kondom die Zeugung von Nachwuchs, und da geistert der Verdacht eines teuflischen Komplotts der westlichen Industrienationen, die angeblich die demographische Expansion der schwarzen Rasse einzudämmen suchen.“[32]

„Mit nur 0,7 Prozent der Weltbevölkerung hat das Land 17 Prozent aller Aids-Infizierten. Seit dem Ausbruch der Epidemie zur Mitte der 1990er Jahre sind fast vier Millionen Südafrikaner an der Krankheit verstorben, die meisten davon im besten Alter.“[33]

Welche Auswirkungen das auf die wirtschaftliche und soziale Entwicklung hat, liegt auf der Hand.

Staatszerfall, Arbeitslosigkeit, Produktivitätssenkung, Kriminalität und Aids – das ist der Zustand dieses herrlichen Landes, zu dem das „neue Südafrika“, die „Regenbogennation“ des Nelson Mandela, geworden ist.

Anmerkungen


[1] Mandela, Nelson, Der lange Weg zur Freiheit, Frankfurt / Main, 1994, S. 819

[2] Mandela, Nelson, Der lange Weg zur Freiheit, Frankfurt / Main, 1994, S. 829

[3] Mandela, Nelson, Der lange Weg zur Freiheit, Frankfurt / Main, 1994, S. 821

[4] vgl. Bald, Dominik,  Die neue Farbe des Geldes, in: Afrika Süd - Zeitschrift zum südlichen Afrika, Nr. 2, März / April 2006

[5] Räther, Frank, Licht und Schatten in Südafrika, in: Deutschlandfunk vom 25. Juni 2005

[6] vgl. Bald, Dominik,  Die neue Farbe des Geldes, in: Afrika Süd - Zeitschrift zum südlichen Afrika, Nr. 2, März / April 2006

[7] Schuller, Alexander, Neuer Rassismus: Schwarz gegen Weiß, in: Hamburger Abendblatt vom 12. April 2011

[8] Scholl-Latour, Peter, Afrikanische Totenklage, München 2001, S. 310

[9] Pabst, Martin, Südafrika, München 1997, S. 181

[10] Pabst, Martin, Südafrika, München 1997, S. 183

[11] Scheen, Thomas, Das riecht nach Zimbabwe, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. Juli 2008

[12] Bandulet, Bruno, Schnee für Afrika - Entwicklungshilfe: Vergeudete Milliarden, München / Berlin 1978, S. 167ff

[13] Scholl-Latour, Peter, Afrikanische Totenklage, München 2001, S. 301

[14] Scholl-Latour, Peter, Afrikanische Totenklage, München 2001, S. 306

[15] Scholl-Latour, Peter, Afrikanische Totenklage, München 2001, S. 303

[16] Scholl-Latour, Peter, Afrikanische Totenklage, München 2001, S. 300f

[17] Pabst, Martin, Südafrika, München 1997, S. 173

[18] Pabst, Martin, Südafrika, München 1997, S. 93

[19] Pabst, Martin, Südafrika, München 1997, S. 174

[20] Pabst, Martin, Südafrika, München 1997, S. 171ff

[21] Pabst, Martin, Südafrika, München 1997, S. 173f

[22] Scholl-Latour, Peter, Afrikanische Totenklage, München 2001, S. 301

[23] Grill, Bartholomäus, Wir ziehen in die letzte Schlacht, in: Die Zeit vom 9. Februar 2012

[24] Mandela, Nelson, Der lange Weg zur Freiheit, Frankfurt / Main, 1994, S. 760f

[25] Räther, Frank, Licht und Schatten in Südafrika, in: Deutschlandfunk vom 25. Juni 2005

[26] Grill, Bartholomäus, Wir ziehen in die letzte Schlacht, in: Die Zeit vom 9. Februar 2012

[27] Scholl-Latour, Peter, Afrikanische Totenklage, München 2001, S. 302

[28] Scholl-Latour, Peter, Afrikanische Totenklage, München 2001, S. 306

[29] Der Spiegel vom 14. März 2013

[30] Drechsler, Wolfgang, Tödliche Ignoranz, in: Handelsblatt vom 17. April 2014

[31] Drechsler, Wolfgang, Tödliche Ignoranz, in: Handelsblatt vom 17. April 2014

[32] Scholl-Latour, Peter, Afrikanische Totenklage, München 2001, S. 311f

[33] Drechsler, Wolfgang, Tödliche Ignoranz, in: Handelsblatt vom 17. April 2014

 

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