Roger Kunert

Gedanken zu Rußland

Gedanken zu Rußland

Während man bezüglich Polens noch die Frage stellen mag, ob es sich – gemäß den Vorstellungen der Polen selbst – um ein europäisches Land handelt[1], kann diese Frage auf Rußland bezogen eindeutig verneint werden. Die Russen selbst sagen, wenn sie nach Westen reisen, sie führen „nach Europa“, womit klar wird, daß sie sich selbst nicht dort verorten.

Ist Polen also eher nur ein halb-europäisches Land, so handelt es sich bei Rußland – Karl Emil Franzos zitierend – definitiv um „Halb-Asien“[2].

Doch – sprechen nicht die hervorragenden russischen Schriftsteller, Komponisten, Maler gegen diese These?

Dafür sprechen jedenfalls die traditionell asiatisch-despotischen Herrschaftsverhältnisse, vom schrecklichen Iwan über Lenin und Stalin bis in die Gegenwart, – abgesehen von Peter dem Großen und Katharina II. oder merkwürdigen Ausnahmen der „Perestroika“-Zeit, als man für einige Momente zu glauben meinte, es mit einem Land des europäischen Kulturkreises zu tun zu haben.

Dafür sprechen auch die immer wiederkehrenden mongolisch sich darstellenden Einfälle in den europäischen Kulturraum, der primitiven Logik heranstürmender Horden der kolonialisierten Steppenvölker entsprechend.

Schon Friedrich der Große schreibt im Rückblick auf den Siebenjährigen Krieg: „In Ostpreußen rechnete man 20.000 Menschen, die durch die Greueltaten und Verheerungen der Russen umgekommen waren, in Pommern 6.000, in der Neumark 4.000, in der Kurmark 3.000.“[3]

Vergessen wir nicht Neidenburg im Ersten oder die Massaker von Katyn, von Nemmersdorf, Metgethen oder Vilmsee bei Neustettin im Zweiten Weltkrieg.

Lew Kopelew schreibt:

„Was geschah in Ostpreußen? War eine derartige Verrohung unserer Leute wirklich nötig und unvermeidlich – Vergewaltigung und Raub, mußte das sein? Warum müssen Polen und wir uns Ostpreußen, Pommern, Schlesien nehmen? Lenin hatte seinerzeit schon den Versailler Vertrag abgelehnt, aber dies war schlimmer als Versailles. In den Zeitungen, im Radio riefen wir auf zur heiligen Rache. Aber was für Rächer waren das, und an wem haben sie sich gerächt? Warum entpuppten sich so viele unserer Soldaten als gemeine Banditen, die rudelweise Frauen und Mädchen vergewaltigten – am Straßenrand im Schnee, in Hauseingängen; die Unbewaffnete totschlugen, alles, was sie nicht mitschleppen konnten, kaputtmachten, verhunzten, verbrannten? . . . Sinnlos – aus purer Zerstörungswut. . .
Wie ist das alles nur möglich geworden?
Haben nicht wir sie so erzogen, wir, die Politarbeiter, die Journalisten, die Schriftsteller – Ehrenburg und Simonow und Hunderttausende anderer, strebsamer, ehrgeiziger, aber auch begabter Agitatoren, Lehrer, Erzieher, aufrichtige Prediger der ‚heiligen Rache‘? Wir lehrten sie hassen, überzeugten sie, daß der Deutsche schon deshalb schlecht ist, weil er Deutscher ist; wir verherrlichten den Mord in Gedichten, Prosa und Malerei. (…) Wir säten Chauvinismus, verhimmelten unsere Nationalhelden. (…) Über all das muß man nachdenken. Woher kam es, wohin führt es?“[4]

Für die hunnisch anmutenden Massaker des Zweiten Weltkriegs mag der Einfluß der bolschewistischen Propaganda als Erklärung herangezogen werden, für die Greueltaten im Siebenjährigen Krieg oder in den russischen Kriegen nach 1945 nicht.

Der Psychotherapeut Gustav Richard Heyer schreibt über „den“ Russen: „Man könnte sein Wesen auch – im Gegensatz zu dem europäischen – als ein mehr weibliches bezeichnen. Denn die Natur, in der der ‚Russe‘ weitgehend enthalten ist – während wir mehr im geistigen Raum leben – , hat weiblichen Charakter; man spricht von Mutter Erde, Mutter Natur, von ihrem Busen und Schoß“. „‘Rußland‘ hat in der Traumsymbolik bei uns Psychologen nicht umsonst die Bedeutung des Groß-Mütterlichen.“

Heyer erklärt dies mit dem „genius loci“: „Das ist die Größe, die Unheimlichkeit des Ostens, das ist sein ‚grenzen-los‘ Gefährliches; das der Grund so vieler irriger Gedanken über ihn; das die Ursache seiner ewigen Faszination. (…) Es sei nur verwiesen auf die Großzügigkeit, die der ‚Weite‘ entspricht; oder auf die Fähigkeit zu leidenschaftlicher Verehrung, zu frommer Gefolgschaft, zu jeder Form von inbrünstiger Religiosität.“

„Dies Unergründliche und Ungreifbare ist wohl auch das, was mit dem vielberufenen ‚russischen Raum‘ gemeint ist und seiner Unheimlichkeit; was der Östliche selbst als ‚schirokaja natura‘ bezeichnet, was in der Balalaikamusik – und überhaupt der russischen Musik – , was in der endlosen Weite der östlichen Ebene vernehmlich wird.“

Ist es dieses „Sein“, welches das „seelische Unter-Bewußtsein“ bestimmt?

„Dadurch wird auch verständlicher, wieso der ‚Russe‘ sowohl des Zarenreiches wie insbesondere des Sowjetregimes in derart ‚lebensunwürdigen‘ Zuständen zu existieren fähig und bereit war. Diesen Menschen ist es – wie der Natur – wichtig, d a ß sie existieren, w i e ist erst eine zweite Frage.“[5]

Das würde auch erklären, warum das Konstrukt des Panslawismus nicht funktioniert – jedenfalls nicht bei den „slawischen Brudervölkern“ sondern nur im russischen Sinne als Herrschaftsanspruch.

Oswald Spengler spricht von der „primitiven russischen Seele“[6], und es gäbe „keinen größeren Gegensatz als russischen und abendländischen.“[7] Er schlußfolgert etwas drastisch: „Ein wahrhaft apokalyptischer Haß richtet sich gegen Europa auf.“[8]

„Im Grunde der Seele gutmütig, ja altruistisch, demütig, orientalisch schicksalergeben“, wie der deutsch-baltische Arthur Freiherr von Kruedener das russische Volk skizziert, „konnte es unter dem Einfluß außenstehender Kräfte plötzlich ebenso wild, grausam und ungezügelt, seiner selbst nicht mehr Herr, ins Gegenteil umschlagen.“[9]

Nochmals Heyer: „Denn die Natur ist (im Gegensatz zu der landläufigen Vorstellung romantisierend-ahnungsloser Art) ebenso wie das Elementar-Weibliche nicht etwa ‚gut‘ – sowenig sie ‚böse’ ist! – ; sie i s t  und will nichts als s e i n. Vom Geist her gesehen ist das mitleidslos-kalt, grausam und unerbittlich.“[10]

Dies könnte die Frage Kopelews nach dem „Woher“ beantworten.

Und Friedrich der Große schreibt:

„Der Geist der Nation ist ein Gemisch von Mißtrauen und Unredlichkeit. Die Russen sind faul, aber eigennützig, geschickt im Nachahmen, aber ohne Erfindungsgeist. Die Großen sind rebellisch, die Garde ist für die Herrscher eine stete Gefahr, das Volk dumm, trunksüchtig, abergläubisch und unglücklich.“[11]

Mag diese Skizzierung auch überspitzt erscheinen und aus der damaligen Zeit heraus verstanden werden, so ist die Aussage über den mangelnden „Erfindungsgeist“ nicht unzutreffend: Rußland ist wirtschaftlich betrachtet – abgesehen von den natürlichen Rohstoffen, an denen das Volk und der Staat kein Verdienst haben – geradezu unbedeutend.

Die gegebenen Möglichkeiten wurden und werden nicht etwa zu einem kulturell-technischen Aufbau und für den Wohlstand des Volkes genutzt, nein, das Bestreben der Herrscher war und ist in archaischer Tradition fast ausschließlich auf pompöse Selbstdarstellung und koloniale Expansion gerichtet.

Aber was ist mit den genannten Schriftstellern, Komponisten und Malern – mit den erfindungsreichen und rebellischen?

War ihnen nicht die Gnade eines frühen Todes oder die Chance des Exils „in Europa“ zuteil, so lautete ihr Schicksal nicht selten: „Sibirien“. Und der „Ewig-Lebende“, wie Johannes R. Becher einen der größten Massenmörder der Menschheitsgeschichte verherrlicht – die „Sonne der Völker“: Stalin – hatte eine klare Ansage an alle, die nicht dem bolschewistischen Weltbild entsprachen:

„Es muß klargelegt werden, daß im Kampf gegen den gegenwärtigen Trotzkismus jetzt nicht die alten Methoden, nicht die Methoden der Diskussion, sondern neue Methoden, die Methoden der Ausrottung und der Zerschmetterung nötig sind.“[12]

Und so geschah es denn auch mit der „Intelligenzija“, der „rebellischen“ … Und nicht nur mit der.

Das alles hat sehr lange Tradition in Rußland – bis heute! Giftmord inklusive.

Übrig blieb und bleibt ein – der Elite beraubtes – bemitleidenswertes „Arbeiter- und Bauernvolk“, unterdrückt – noch bis 1861 in Leibeigenschaft gehalten – und stumpf, tief religiös – und „unglücklich“.

Wie aber geht man mit einem solchen Nachbarn, den man sich nicht aussuchen kann, um?

Entsprechend dem Charles de Gaulle zugesprochenen Bonmot „Staaten haben keine Freunde, nur Interessen.“ folgert Friedrich der Große nüchtern kalkulierend: „Wir werden aber bei anderen Mächten nie die Vorteile finden, die ein Bund mit Rußland bietet.“[13]

Man muß den Staat „Rußland“ nicht „lieben“, man mag seinen Herrschern berechtigterweise mißtrauen, und man muß sicherlich bei einem solchen Nachbarn jederzeit auf der Hut und gut gerüstet sein – geopolitisch ist eine deutsch-russische „friedliche Koexistenz“ immer zu beiderseitigem Vorteil gewesen. Mag der Hitler-Stalin-Pakt heutzutage politisch-moralisch als verwerflich angesehen werden – der sowjetisch-deutsche Krieg war um ein Vielfaches verderblicher.

Was für ein epochaler geistig-seelischer Gegenentwurf zum anglo-amerikanischen Imperialismus wäre es gewesen – Heyer spricht von der „Möglichkeit wesenhafter Bereicherung und Weitung in solcher Berührung“[14] – , hätten Deutschland und Rußland dauerhaft zusammengearbeitet! Dazu aber fehlte es den maßgeblichen Politikern beider Seiten an Größe – und an gegenseitigem Verständnis.

So wurde der Krieg zu einer unaussprechlichen Tragödie, die zu ihrer Verarbeitung einem der größten griechischen Dichter zur Ehre gereichte!

Denn wir wollen „Staat“ und „Volk“ nicht verwechseln.

Es ist nicht das Volk, das „dumme“, das barbarisch ist – dafür ist es zu „dumm“, zu „faul“ oder auch zu „eigennützig“.

Es sind die Verdummer der Völker, die Politiker und ihre Handlanger, die von Kopelew genannten Einpeitscher, die das Blut der Völker vergießen – das sind die wirklich großen Verbrecher! Das sind die Bestien!

Anmerkungen


[1] vgl. Kunert, Roger, Liegt Polen in Europa?, in: http://roger-kunert.de/betrachtungen/polen-iii/

[2] Franzos, Karl Emil, Aus Halb-Asien, 1876

[3] Volz, Gustav Berthold (Hrsg.), Ausgewählte Werke Friedrichs des Großen, Bd. 1, Berlin 1916, S. 199

[4] Kopelew, Lew, Aufbewahren für alle Zeit!, München 1979, S. 19

[5] Heyer, Gustav Richard, Zur Psychologie des Ostraumes, in: Haushofer, Karl (Hrsg.), Zeitschrift für Geopolitik, 19. Jg., 7. Heft, München 1942, S. 309ff

[6] Spengler, Oswald, Der Untergang des Abendlandes, München 1963, S. 788

[7] Spengler, Oswald, Der Untergang des Abendlandes, München 1963, S. 789

[8] Spengler, Oswald, Der Untergang des Abendlandes, München 1963, S. 789

[9] von Kruedener, Arthur, Landschaft und Menschen des osteuropäischen Gesamtraumes, in: Haushofer, Karl (Hrsg.), Zeitschrift für Geopolitik, 19. Jg., 8. Heft, München 1942, S. 372

[10] Heyer, Gustav Richard, Zur Psychologie des Ostraumes, in: Haushofer, Karl (Hrsg.), Zeitschrift für Geopolitik, 19. Jg., 7. Heft, München 1942, S. 310

[11] Volz, Gustav Berthold (Hrsg.), Ausgewählte Werke Friedrichs des Großen, Bd. 1, Berlin 1916, S. 61

[12] Stalin, J. W., Über die Mängel der Parteiarbeit, 3./5.3.1937, in: Verlag Roter Morgen (Hrsg.), J. W. Stalin - Werke, Bd. 14, Dortmund 1976, S. 134

[13] Volz, Gustav Berthold (Hrsg.), Ausgewählte Werke Friedrichs des Großen, Bd. 2, Berlin 1916, S. 84

[14] Heyer, Gustav Richard, Zur Psychologie des Ostraumes, in: Haushofer, Karl (Hrsg.), Zeitschrift für Geopolitik, 19. Jg., 7. Heft, München 1942, S. 313

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