Roger Kunert

"Sozialistisches Bewußtsein"

Der Mensch mit „sozialistischem Bewußtsein“

Die Erziehung des Menschen zum „neuen sozialistischen Menschen“, wie sie 1958 in der „Deutschen Demokratischen Republik“ (DDR) in den „Zehn Geboten der sozialistischen Moral“ zum Ausdruck kam, erscheint ambitioniert:

„Du sollst das Volkseigentum schützen und mehren. Du sollst stets nach Verbesserung Deiner Leistung streben, sparsam sein und die sozialistische Arbeitsdisziplin festigen. Du sollst gute Taten für den Sozialismus vollbringen, denn der Sozialismus führt zu einem besseren Leben für alle Werktätigen.“

Vorausgesetzt wurde ein aus innerem Antrieb arbeitender, uneigennütziger Mensch, dem die Arbeit „Pflicht und Ehrensache“[1], die „Mehrung des Volkseigentums“ und „gute Taten für den Sozialismus“ Ziele seines verantwortungsbewußten Strebens waren. Im Ergebnis sollte ein „besseres Leben“ für alle erreicht werden. Zusammengefaßt wurde dies in den Verfassungen zum Beispiel der Sowjetunion und der DDR: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung.“[2]

Die Wirklichkeit ist bekannt: Mag in den Anfangsjahren des „real existierenden Sozialismus“ bei den Menschen vielleicht tatsächlich ein gewisser Enthusiasmus beim Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung vorhanden gewesen sein – wobei die Ausgangssituationen natürlich sehr unterschiedlich waren: eine Revolution in Rußland, ein kriegszerstörtes, militärisch besetztes Land in der DDR – so machte sich bald Ernüchterung breit. Statt eines „besseren Lebens“ herrschte dauerhaft eine Mangelwirtschaft, die das Interesse der Menschen weg von der Verantwortung für das Volkseigentum hin zur Sicherstellung der eigenen Versorgung lenkte. Das „sozialistische Bewußtsein“, die „sozialistische Arbeitsdisziplin“ und die „Verbesserung der eigenen Leistung“ wurden ersetzt durch „Organisieren“ und Nachbarschaftshilfe zugunsten der persönlichen Existenz. Kritische Äußerungen oder substantielle Verbesserungsvorschläge zur Wirtschaftsordnung wurden sanktioniert, Widerstand gebrochen, die ideologische Indoktrination intensiviert, ein räumliches Ausweichen nahezu unmöglich gemacht. Der Rahmen war eng gesteckt; Freiräume und Handlungsmöglichkeiten entsprechend begrenzt. Anpassung statt Identifikation war das elfte Gebot der „sozialistischen Moral“.

Wie sah das Ergebnis aus?

„Vierzig Jahre praktizierte sozialistische Kommandowirtschaft in der DDR haben nicht nur ihre Spuren in der technischen Ausstattung der Betriebe und ihrem Modernitätsgrad und im Zustand der Städte und Dörfer und der Umwelt hinterlassen. Die technologische Lücke zur Bundesrepublik Deutschland ist groß. Aber noch schlimmer ist ihre Auswirkung auf die Motivation der Menschen und ihre Einstellung zur Arbeit. Wenn der Wille zu verantwortungsbewußtem Handeln erlahmt, verkümmert gleichzeitig einer der wichtigsten Impulse des wirtschaftlichen Fortschritts. Kundige Beobachter der inneren Verhältnisse in der DDR sehen in diesem Phänomen eine der Hauptursachen für die Misere der DDR.

(…) Daß die Bürger der DDR, die nicht weniger fleißig und opferbereit waren als die im Westen, nicht in den vollen Genuß ihrer Leistungen kamen, hängt mit der sozialistischen Gesamtordnung zusammen, die die Verhältnisse in der DDR bestimmte. Der Kommunismus ist unfähig, den Bürgern ein menschenwürdiges Dasein zu bieten.“[3]

Und was blieb nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Wirtschaftsordnung und Jahrzehnten der „Erziehung zum neuen sozialistischen Menschen“?

Die 1942 geborene rumänische Schriftstellerin und Bürgerrechtlerin Ana Blandiana beschreibt eine „seltsame Entdeckung“, wie sie es nennt:

„Zweifelsfrei konnte ich die Menschen aus dem Osten erkennen an der unruhigen, demütigen Tiefe ihrer Blicke, Ausdruck einer inneren Unruhe, eines fehlenden Selbstbewußtseins, ein Gemisch aus Scham und Unsicherheit, das ich nur allzu gut von zu Hause kannte. Die Erkenntnis, die sich mir erschloß, gleich wie seltsam sich das anhören mag, ist, daß das, was ich in den Augen der Menschen aus dem Osten sah, nichts mit dem Kommunismus zu tun hatte, sondern mit seinem Ende. Der Schrecken von jetzt war keine Fortsetzung des vorherigen, im Gegenteil, es war ein Gefühl, das im luftleeren Raum, der nach seinem Verschwinden zurückblieb, entstanden ist. Der Mensch aus dem Osten war ein Mensch, hinter dessen Rücken plötzlich ein System weggebrochen ist.

Wie ein Körper, der viel zu lange in einem Korsett eingeengt war, dessen Muskeln dadurch schlaff geworden sind, so daß dieses Korsett nicht nur Einengung, sondern auch Stütze bedeutet, so wird auch das Individuum, das Jahrzehnte in einem totalitären System gelebt hat, abhängig vom System. Das Verschwinden der Struktur, einengend, aber stützend, läßt ein Ungleichgewicht in seiner Welt, in der er einen nicht unbedeutenden Platz eingenommen hat, auftreten und hinterläßt ein nacktes (weil jedes Korsett auch ein Kleidungsstück ist) Individuum, das unfähig ist, aus eigenem Antrieb zu handeln und Verantwortung, auch für sich, zu übernehmen.

Die Unsicherheit, die sich in Unruhe und die Unruhe in Schrecken verwandelte, war nicht Ausdruck eines Nachtrauerns nach dem Verschwundenen, sondern die Unfähigkeit, den leeren Platz zu füllen.“[4]

Der „neue sozialistische Mensch“ fand sich plötzlich, nach jahrzehntelanger Einengung und Bevormundung, nicht mehr zurecht. Die veränderte Welt überforderte ihn. Er konnte nichts dafür: Die „sozialistische Moral“ hatte ihm seine Individualität, seine Persönlichkeit aberzogen. Er war für das festgefügte Kollektiv geschaffen. Mit neu sich eröffnenden Handlungsmöglichkeiten, mit Freiheiten konnte er nichts anfangen.

Die Utopie des Sozialismus setzte sich im „sozialistischen Menschen“ fort.

Anmerkungen



[1] Stalin, Josef, Werke, Bd. 14, Dortmund 1976, S. 93

[2] Stalin, Josef, Werke, Bd. 14, Dortmund 1976, S. 93

[3] Hohmann, Karl, in: Hohmann, Karl (Hrsg.), Ludwig Erhard – Gedanken, Reden und Schriften, Düsseldorf 1988, S. 8

[4] Blandiana, Ana, In einer spanischen Herberge, Berlin 2012, S. 67f

 

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