Roger Kunert

Polen II

„Wir müssen uns alles sagen“

Ist zwischen Deutschen und Polen alles geklärt?

Die Frage zielt nicht auf tagespolitisches Geplänkel, nicht auf Darstellungen sich profilierender Politiker. Es geht um Tieferliegendes; es geht um das Verhältnis der Völker, der Menschen zueinander.

Der Polonist und Literaturkritiker Jan Józef Lipski (1926-1991) kämpfte im Warschauer Aufstand gegen die Deutschen, wurde später Bürgerrechtler und Solidarnosc-Mitglied und schließlich Senator. Unter anderem befaßte er sich intensiv mit dem deutsch-polnischen Verhältnis und kam dabei zu bemerkenswert differenzierten Betrachtungen.

So schreibt er: „Beziehungen zwischen Völkern entwickeln sich geschichtlich auf vielen Ebenen: auf politischer, kultureller und wirtschaftlicher sowie, leider viel zu oft, auch auf militärischer Ebene. Die polnisch-deutschen Beziehungen haben besonders in der Zeit des Zweiten Weltkrieges einen solchen Verlauf genommen, daß deren Folgen hauptsächlich auf der Ebene der Bilanz gegenseitiger Schuld und vor allem einer moralischen Beurteilung des Geschehenen betrachtet werden müssen. Auf andere Weise ist die Vergangenheit nicht zu bewältigen.

Wir müssen uns gegenseitig alles sagen, unter der Bedingung, daß jeder über seine eigene Schuld spricht. Wenn wir dies nicht tun, erlaubt uns die Last der Vergangenheit nicht, in eine gemeinsame Zukunft aufzubrechen. Wir müssen in die Fußstapfen der historischen Worte der polnischen an die deutschen Bischöfe treten, die ich als nicht gläubiger und mit der Kirche nicht verbundener Mensch als einen von der Weisheit der christlichen Ethik tief geprägten Wegweiser ansehe: ‚Wir vergeben und bitten um Vergebung‘.“ [1]

„Der Appell des polnischen Episkopats an den deutschen beinhaltet vor allem ein Problem, das sich nicht umgehen läßt, wenn man dem Christentum treu bleiben will: das Problem auch unserer Schuld gegenüber den Deutschen. Den Polen scheint eine solche Darstellung der Dinge unerträglich (…) Wir haben uns daran beteiligt, Millionen Menschen ihrer Heimat zu berauben (…) Das uns angetane Böse, auch das größte, ist aber keine Rechtfertigung und darf auch keine sein für das Böse, das wir selbst anderen zugefügt haben (…).“ [2]

Zumal, wie Lipski feststellt, schon „vor dem Zweiten Weltkrieg (…) politische Gruppen (…) ein Polen bis an die Oder und Neiße verlangten, mit Stettin und Breslau.“ [3]

Lipski spricht unverblümt von polnischen „Eroberungsplänen“.

Mit anderen Worten: Der Ausgang des Zweiten Weltkrieges war lediglich der willkommene Anlaß für die Aneignung der deutschen Gebiete östlich von Oder und Neiße (sowie der westlich der Oder gelegenen pommerschen Hauptstadt Stettin); der Krieg stellte nicht unbedingt die Ursache dar im Sinne einer Kompensation für polnische Verluste.

Und zur später so genannten „Wiedergewinnung der polnischen Westgebiete“ stellt Lipski klar:

„Fast jeder Pole (sogar der gebildete!) glaubt heute, daß wir nach dem Zweiten Weltkrieg in Gebiete zurückgekehrt seien, die uns von den Deutschen geraubt worden seien. Das kann auf Danzig und das Ermland zutreffen, (…) obwohl (…) sowohl Danzig wie das Ermland (…) in der Mehrheit ethnisch deutsch waren.

Der Rest von Ostpreußen war niemals polnisch, und die Deutschen haben dieses Gebiet nicht den Polen abgenommen, sondern den Pruzzen, einem den Litauern verwandten Volke. Die polnische Minderheit in diesem Gebiet (Masuren) (…) war eine eingewanderte Bevölkerung, hauptsächlich durch Albrecht von Hohenzollern aus Polen hereingeholt (…).

Pommern, ethnisch ebenfalls nicht polnisch, wenn auch slawisch, warf hartnäckig seine Abhängigkeit von Polen mehrmals ab und bildete eine eigene staatliche Organisation, die erst im 17. Jahrhundert von den Schweden zerstört wurde. Die Preußen nahmen diese Gebiete, die nicht von Polen bewohnt waren, den Schweden ab, nicht den Polen.

Die Eindeutschung Pommerns erfolgte ohne Gewalt, auf natürlichem Wege. Schlesien kam noch im Mittelalter unter böhmische Oberhoheit und mit Böhmen in den Bestand der österreichischen Monarchie. Die Preußen nahmen es den Österreichern weg, nicht den Polen, erst im 18. Jahrhundert, als der Prozeß der Eindeutschung Niederschlesiens, gleichfalls auf natürlichem Wege ohne Zwang, schon weit fortgeschritten war. Das Oppelner Schlesien und das eigentliche Oberschlesien bewahrten ihr ethnisches Polentum. (…)

Dagegen wollen wir heute in der Regel nicht wahrhaben, daß dies Gebiete sind, in denen einige hundert Jahre deutsche Kultur geblüht hat. Wir lesen rührende Feuilletons über die schlesischen Piasten, ihre Burgen und Schlösser, niemand sagt uns aber, daß schon Heinrich Probus in deutschen Literaturgeschichten als Minnesänger bekannt ist, als deutschsprachiger Troubadour, der seine Lieder in derselben Sprache vortrug wie Walther von der Vogelweide, wie Hartmann von Aue (…)

Nach Jahrhunderten der Entwicklung deutscher Kultur neben der polnischen in Schlesien, dem Land Lebus, in Ermland und Masuren, in Danzig (dem in erdrückender Mehrheit deutschen) – und der seit langer Zeit ausschließlich deutschen Kultur in Pommern fiel uns im Zuge der geschichtlichen Veränderungen ein reiches Erbe an Architektur und anderen Kunstwerken sowie deutschen historischen Denkmälern zu. Wir sind gegenüber der Menschheit Verwahrer dieses Erbes. Das verpflichtet uns, diese Schätze mit vollem Bewußtsein, daß wir ein Erbe deutscher Kultur behüten, ohne Lügen und ohne Verschweigen für die Zukunft zu bewahren, auch für die unsere.“ [4]

Lipski konkretisiert die „geschichtlichen Veränderungen“, also die Thematik des Bevölkerungsaustauschs:

„Wie sind die Polen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in diese Gebiete gekommen? (…) Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Millionen Polen aus den östlichen Gebieten ihres Landes vor die Wahl gestellt, in der schreckenerregenden Sowjetunion zu bleiben oder in das in neuen Grenzen wiedererstehende Polen (…) zu ziehen.“ [5]

Die aus Ostpolen in die deutschen Gebiete umsiedelnden Menschen wurden also keineswegs vertrieben sondern, wie Lipski schreibt, „vor die Wahl gestellt“: „Die polnische Bevölkerung wollte nicht in der Sowjetunion leben.“[6]. Der Großteil der polnischen Westsiedler kam allerdings aus Zentralpolen – freiwillig. Ein gewaltiger Unterschied zur gewaltsam vertriebenen Bevölkerung Ostdeutschlands, die übrigens ethnisch eine im besten Sinne europäische war, angefangen von den autochthonen Bewohnern wie den Pruzzen über die deutschen Siedler des Mittelalters bis hin zu den Salzburger Emigranten der Neuzeit.

Lipski weiter:

„Über diese neuen Grenzen haben übrigens die Großmächte entschieden, ohne Polen auch nur zu fragen, aber Polen akzeptierte sie. Damals fiel der Beschluß, die Deutschen aus diesen Gebieten auszusiedeln. In Polen ging damit eine Propaganda einher, die sich auf historische und ethnische Argumente berief – Argumente von zweifelhaftem Wert. (…)

Das Problem wurde auf Kosten jener Deutschen gelöst, die bis 1945 die Gebiete östlich der Oder und Neiße bewohnt hatten. Nur wenige Polen sind sich dessen bewußt, daß diesen Menschen offensichtliches Unrecht widerfuhr – wie es der Verlust der Heimat immer ist (…)“ [7]

„Die große Mehrheit der Polen empfindet keine Schuld wegen der Vertreibung der Deutschen aus den heutigen polnischen Westgebieten.“ [8]

„Ich glaube, daß den Menschen, die das Unglück getroffen hat, ihre Heimat verloren zu haben, mindestens eine gewisse moralische Genugtuung zusteht, und auch Nachsicht, wenn sie – ebenso wie viele Polen, die von einer Rückkehr nach Lemberg und Wilna träumen – von einer Rückkehr nach Breslau und Stettin träumen. (…) Der Mehrzahl der Polen ist hingegen ein solcher Standpunkt fremd. (…) Im Zusammenhang damit machen sich die meisten Polen keine Gedanken darüber, warum der polnische Episkopat vor zwanzig Jahren zu den Deutschen gesagt hat: ‚Wir vergeben und bitten um Vergebung‘.“[9]

„Ich meine, das einzige, was wir heute tun können, ist, offen und klar zu sagen, daß Schuld Schuld ist. Eine andere Lösung ist nicht möglich. Sollte man denn noch einmal Menschen vertreiben?“ [10]

Natürlich kann und wird es nicht darum gehen, die heute in den ehemaligen deutschen Ostgebieten wohnenden Polen zu vertreiben. Aber mit der Anerkennung von Schuld und der Bitte um Vergebung für den an den Deutschen verübten Völkermord, mit einer Achtung des deutschen Erbes und nicht zuletzt mit einer offenen Auseinandersetzung in der Problematik des privatrechtlichen Eigentums wäre schon viel gewonnen.

Lipski: „Das entscheidende Problem eines historischen Ereignisses, wie es die Grenzverschiebung Polens an Oder und Neiße und die damit verbundene Aussiedlung der deutschen Bevölkerung war, ist das menschliche Leid. (…)

Sagen wir es offen: Diese menschlichen Leiden sind heute nicht wiedergutzumachen. Den Geschädigten gebührt aber eine vielfache Wiederholung der vor einem Vierteljahrhundert von den polnischen an die deutschen Bischöfe gerichteten Worte: ‚Wir vergeben und bitten um Vergebung‘; es gebührt ihnen eine moralische Genugtuung.“ [11]

Der 1969 in Budapest geborene ungarische Historiker und Germanist Dr. Krisztián Ungváry schildert den ungarischen Umgang mit seiner diesbezüglichen Vergangenheit wie folgt:

„Wenn wir nun betrachten, wie Ungarn im Rahmen der Vergangenheitsbewältigung zum Beispiel die Vertreibung der Ungarndeutschen behandelt, dann kommen wir zu sehr interessanten Ergebnissen. Alle Vertreiberstaaten haben ja versucht, sich auf Notwendigkeiten zu berufen: auf das Potsdamer Abkommen, ‚es war eine Pflicht‘, ‚wir konnten nicht anders‘ usw. Das hat man auch in Ungarn lange Zeit versucht – und man versucht es manchmal auch heute noch. Eines ist aber ganz wichtig: Der ungarische Staat erließ nach der Wende ein Entschädigungsgesetz, in dem schwarz auf weiß folgendes steht: Alle Opfer von Verfolgung, von totalitären Diktaturen, von Parteistaaten sind unabhängig von ihrer Rasse und unabhängig davon, ob sie unter Maßnahmen der Nazis oder der Kommunisten gelitten haben, zu entschädigen, außerdem haben sie das Recht auf eine symbolische Entschuldigung. Diese Entschuldigung trug erheblich dazu bei, daß die Ungarndeutschen, die auch entschädigt wurden, gern nach Ungarn zurückkehrten und das Geld aus den Entschädigungszahlungen auch gern in Ungarn ausgaben, indem sie ihre Häuser renovierten und Geld spendeten. Nun haben wir vor einigen Wochen vom polnischen und vom deutschen Staatspräsidenten erfahren, daß Entschädigungsfragen überhaupt nicht erörtert werden dürfen. Dadurch könnte man zu dem Schluß kommen, daß es seitens der Ungarn eine Dummheit war, Entschädigungszahlungen zu leisten: Sie hätten das nicht tun und anstelle dessen lieber auf die Erklärung der tschechischen und deutschen Staatspräsidenten warten sollen, die auf Entschädigungen völlig verzichten würden. Uns haben diese Entschädigungszahlungen aber viel mehr gebracht, sowohl finanziell als auch politisch, als sie gekostet haben. Und das halte ich für sehr wichtig in der Debatte über die Vergangenheit zwischen Deutschen, Polen und Tschechen. Das ungarische Verhalten stellt auch einen Versuch dar, sich mit eigener Schuld zu konfrontieren. Es ist dies sicher kein Versuch, der hundertprozentig gelungen ist, ich könnte jetzt auch mein Land lange dafür tadeln, was dabei alles schiefgegangen ist, es ist aber trotzdem ein Versuch gewesen, und es hat uns etwas weitergebracht. Und deshalb ist, wie ich glaube, auch eine Vertrauensbasis zwischen den beiden Völkern vorhanden, und die Verdächtigungen und das Immer-auf-die-anderen-zeigen, das ‚Du hast angefangen!‘ spielt in der ungarisch-deutschen Verbindung keine Rolle.“ [12]

Der Unterschied zum heutigen Polen besteht jedoch darin, daß die Ungarndeutschen als Deutsche in Ungarn lebten, die Ostpreußen, Pommern und Schlesier hingegen als Deutsche in Deutschland. Nicht zuletzt deswegen hat Polen kein Interesse an einer Rückkehr der vertriebenen Deutschen in ihr Heimatland; es würde die „Eroberungspläne“ hinfällig machen. Genau das, worüber sich die Ungarn freuen, nämlich die – zumindest teilweise – Rückkehr der Deutschen, ruft in Polen laut Lipski entgegengesetzte Gefühle hervor:

„Der Durchschnittspole hat Angst vor dem Deutschen: Daß die Grenze revidiert wird, (…) daß die Deutschen die polnische Industrie aufkaufen, Grundstücke erwerben, investieren können.“ [13]

„Zugegeben, das Problem der Gebiete östlich der Oder und Neiße, die bis 1945 zum Deutschen Reich gehörten, ist nicht einfach.“ [14]

Aber, wie Lipski weiter feststellt:

„Wir Polen haben das noch immer nicht hinreichend durchdacht und innerlich verarbeitet, obwohl wir unsere Zugehörigkeit zu einer auf den Fundamenten der christlichen Ethik errichteten Kultur kundtun. Der Verlust des Elternhauses, des Dorfes, der Stadt, der Landschaft, all dessen, was die engere Heimat ausmacht, ist für den Menschen ein großes Unglück.

Das ist das moralisch wesentlichste Problem – aber nicht das einzige.

Durch die Übernahme Pommerns, Danzigs, des Ermlandes und Masurens, des Landes Lebus, Niederschlesiens und des Oppelner Gebietes wurden wir zu Depositären riesiger deutscher materieller Kulturgüter in diesen Gebieten: von Kirchen, Schlössern, Palais, Rathäusern, berühmteren Patrizierhäusern.

Wenn man Kulturdenkmäler übernimmt – kann man nur von einem Depositum sprechen. Das, was zur Kultur einer Nation gehört, bleibt für immer ihr Werk und ihr Ruhm. Ein Depositär übernimmt aber zugleich auch Pflichten. Und daran, wie er diese Pflichten erfüllt, mißt man seine Kultur; darüber von ihm Rechenschaft zu fordern, hat Europa das Recht, denn sowohl das, was die Deutschen schufen, als auch das, was die Polen schufen, gehört zur gemeinsamen europäischen Kultur.

Die erste dieser Pflichten ist es, einer Zerstörung beziehungsweise materiellen Degradierung der Denkmäler entgegenzuwirken. Es ist kein gutes Zeugnis für den polnischen Patriotismus, wenn man deren Verfall zuläßt und ihren Wert geringschätzt, weil sie nicht ‚unsere‘ sind, und wenn ihre deutsche Herkunft verwischt wird. Im Gegenteil, sie sollten uneingeschränkt in Ehren gehalten werden.

Nicht immer in der Vergangenheit konnten und wollten wir Denkmäler – auch nicht die der polnischen Kultur – bewahren. Dahinter verbarg sich viel Nachlässigkeit, kulturelle Primitivität, Dummheit, ja sogar böser Wille. Indes ist das Depositum einer fremden Kultur keine geringere, sondern vielmehr eine größere Verpflichtung.“ [15]

Und so gab es, wie der 1966 in Stettin geborene polnische Autor Roman Czejarek schreibt, eine „Politik der Auslöschung aller Spuren der deutschen Vergangenheit.“ [16]

Am Beispiel von Stettin schreibt Czejarek:

„Praktisch die gesamte Altstadt verschwand nach dem Krieg vom Erdboden. Nur wenige Häuser, deren Außenmauern noch standen, hätten wieder aufgebaut werden können, doch galten sie ohnehin als nutzlose Überbleibsel aus deutscher Zeit, daher beschloß man ihren Abriß.“ [17]

Weiter heißt es:

„Das [Kaiser-Wilhelm-]Denkmal wurde Ende Juli 1945 zerstört. ‚Es war eine Freude, mitanzusehen, wie der Leiter der Arbeiten, Bürger Ochnik, sich zusammen mit der städtischen Feuerwehr tüchtig ans Werk machte. Er trieb die deutschen zur Arbeit an. Er selbst faßte das Ende eines schweren Balkens und setzte diesen so an, daß Kaiser Wilhelm einen recht angenehmen Fall hatte.‘ Soweit der Zeitungsbericht über die Zerstörung des Denkmals, der 1945 im ‚Pionier Szczecinski‘, Nr. 2 erschien. Die Kleinschreibung des Wortes ‚die deutschen‘ entspricht dem Original. In den ersten Jahren nach dem Krieg wollte man die Verachtung und den Haß gegenüber den besiegten feindlichen Germanen auch noch in der Orthografie zum Ausdruck bringen.“ [18]

Und über die Zerstörung des deutschen Friedhofes in Stettin schreibt der polnische Autor Jerzy Wohl:

„Als die polnische Verwaltung den Friedhof übernahm, war er fast vollständig mit deutschen Gräbern belegt. Bereits 1939 hatte der letzte Friedhofsdirektor sich darum bemüht, neue Flächen für weitere Begräbnisse auszuweisen. Auf der einzigen noch freien Fläche im Westteil war nach dem Krieg der Abschnitt mit polnischen Gräbern entstanden. So sah man sich vor ein ernsthaftes Problem gestellt: woher sollte man den Platz für weitere polnische Gräber nehmen? Auch die Parteiführung machte Druck, die Friedhofsverwaltung sollte Platz schaffen für die geplanten Denkmäler und Gräberfelder, die die neue sozialistische Gesellschaftsordnung zum Ausdruck bringen und somit eine politische Aussage treffen sollten. In jenen Jahren nach dem Krieg kam es niemandem in den Sinn, daß der Friedhof ein Kulturgut von ganz außergewöhnlicher Bedeutung sein könnte. Niemand dachte daran, den hier bestatteten Stettinern Achtung zu erweisen oder sich um die Kunstwerke, die Grabmale in irgendeiner Weise besonders zu kümmern. So begann man also mit der Beseitigung der deutschen Gräber, um Platz zu schaffen für neue, polnische Gräber. In den deutschen Vorkriegsabschnitten des Friedhofes wurden neue Gräber angelegt, direkt neben den alten Grabstellen. Aufrecht stehende Grabsteine und Stelen wurden entfernt und der Boden wurde eingeebnet. Wenn die Totengräber auf menschliche Überreste stießen, die noch nicht vollständig verwest waren, beendeten sie die Arbeiten an dieser Stelle und begannen anderswo zu graben. In vielen Fällen kam es zu Leichenschändungen. Am meisten Platz für polnische Gräber wurde im Abschnitt der Begräbnisse erster Klasse geschaffen, nachdem man die meisten bedeutenden Denkmäler der Familiengruften beseitigt hatte. (…) Grabmäler und Säulen verschwanden teils unter Erdwällen, teils wurden sie von der Friedhofsdirektion verkauft.“ [19]

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„Die Vergangenheit ist nicht mehr“, sagt Buddha. „Die Zukunft ist noch nicht gekommen. Das Leben ist hier und jetzt.“

Daraus resultiert die Aufgabe für das Hier und Jetzt in dem Sinne, wie Lipski schon eingangs zitiert wurde:

„Wir müssen uns gegenseitig alles sagen, unter der Bedingung, daß jeder über seine eigene Schuld spricht. Wenn wir dies nicht tun, erlaubt uns die Last der Vergangenheit nicht, in eine gemeinsame Zukunft aufzubrechen.“[20]

Anmerkungen


[1] Lipski, Jan Józef, Powiedziec sobie wszystko … Eseje o sasiedztwie polsko-niemieckim - Wir müssen uns alles sagen … Essays zur deutsch-polnischen Nachbarschaft, Warschau 1996, S. 247f

[2] Lipski, Jan Józef, Powiedziec sobie wszystko … Eseje o sasiedztwie polsko-niemieckim - Wir müssen uns alles sagen … Essays zur deutsch-polnischen Nachbarschaft, Warschau 1996, S. 192

[3] Lipski, Jan Józef, Powiedziec sobie wszystko … Eseje o sasiedztwie polsko-niemieckim - Wir müssen uns alles sagen … Essays zur deutsch-polnischen Nachbarschaft, Warschau 1996, S. 193f

[4] Lipski, Jan Józef, Powiedziec sobie wszystko … Eseje o sasiedztwie polsko-niemieckim - Wir müssen uns alles sagen … Essays zur deutsch-polnischen Nachbarschaft, Warschau 1996, S. 194ff

[5] Lipski, Jan Józef, Powiedziec sobie wszystko … Eseje o sasiedztwie polsko-niemieckim - Wir müssen uns alles sagen … Essays zur deutsch-polnischen Nachbarschaft, Warschau 1996, S. 233f

[6] Lipski, Jan Józef, Powiedziec sobie wszystko … Eseje o sasiedztwie polsko-niemieckim - Wir müssen uns alles sagen … Essays zur deutsch-polnischen Nachbarschaft, Warschau 1996, S. 259

[7] Lipski, Jan Józef, Powiedziec sobie wszystko … Eseje o sasiedztwie polsko-niemieckim - Wir müssen uns alles sagen … Essays zur deutsch-polnischen Nachbarschaft, Warschau 1996, S. 234

[8] Lipski, Jan Józef, Powiedziec sobie wszystko … Eseje o sasiedztwie polsko-niemieckim - Wir müssen uns alles sagen … Essays zur deutsch-polnischen Nachbarschaft, Warschau 1996, S. 255

[9] Lipski, Jan Józef, Powiedziec sobie wszystko … Eseje o sasiedztwie polsko-niemieckim - Wir müssen uns alles sagen … Essays zur deutsch-polnischen Nachbarschaft, Warschau 1996, S. 235f

[10] Lipski, Jan Józef, Powiedziec sobie wszystko … Eseje o sasiedztwie polsko-niemieckim - Wir müssen uns alles sagen … Essays zur deutsch-polnischen Nachbarschaft, Warschau 1996, S. 259f

[11] Lipski, Jan Józef, Powiedziec sobie wszystko … Eseje o sasiedztwie polsko-niemieckim - Wir müssen uns alles sagen … Essays zur deutsch-polnischen Nachbarschaft, Warschau 1996, S. 264

[12] zitiert nach: Deutsches Kulturforum östliches Europa e. V. (Hrsg.), Deutsche und Ungarn – Eine besondere Beziehung, Potsdam 2005, S. 23f

[13] Lipski, Jan Józef, Powiedziec sobie wszystko … Eseje o sasiedztwie polsko-niemieckim - Wir müssen uns alles sagen … Essays zur deutsch-polnischen Nachbarschaft, Warschau 1996, S. 183f

[14] Lipski, Jan Józef, Powiedziec sobie wszystko … Eseje o sasiedztwie polsko-niemieckim - Wir müssen uns alles sagen … Essays zur deutsch-polnischen Nachbarschaft, Warschau 1996, S. 233

[15] Lipski, Jan Józef, Powiedziec sobie wszystko … Eseje o sasiedztwie polsko-niemieckim - Wir müssen uns alles sagen … Essays zur deutsch-polnischen Nachbarschaft, Warschau 1996, S. 264f

[16] Czejarek, Roman, Kolorowy Szczecin - Stettin in Farbe, Lodz / Stettin 2013, S. 76

[17] Czejarek, Roman, Kolorowy Szczecin - Stettin in Farbe, Lodz / Stettin 2013, S. 65

[18] Czejarek, Roman, Kolorowy Szczecin - Stettin in Farbe, Lodz / Stettin 2013, S. 80

[19] Wohl, Jerzy, 100 lat Cmentarza Centralnego w Szczecinie: pomnik historii miasta - 100 Jahre Stettiner Hauptfriedhof – Ein Denkmal der Stadtgeschichte, Stettin 2007

[20] Lipski, Jan Józef, Powiedziec sobie wszystko … Eseje o sasiedztwie polsko-niemieckim - Wir müssen uns alles sagen … Essays zur deutsch-polnischen Nachbarschaft, Warschau 1996, S. 248

 

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