Roger Kunert

Polen I

Es gibt hier keine Tradition“

Spätestens anderthalb Autobahnstunden von Berlin endet das bundesdeutsche Hoheitsgebiet.

Diesen Zustand strebte schon die panslawische Bewegung im 19. Jahrhundert an. Eigentlich wollte man bis an die Elbe. Dabei schweiften die Gedanken um ein polnisches Großreich von Litauen bis zur Ukraine. Da war die staatliche Neugründung Polens 1918  nicht genug. Unverzüglich wurden in Versailles Ansprüche auf ostdeutsche Gebiete erhoben; sofort wurden Angriffskriege durchgeführt: Wilna, die litauische Hauptstadt wurde annektiert; Teile der Ukraine wurden erobert. Im Westen hatten die imperialen Pläne Pilsudskis und Becks schon 1931 die Oder-Neiße-Grenze als Ziel der polnischen Expansion genannt. Die Vertreibung der Ostdeutschen war dabei bereits im Kalkül. 1938 biß man bei sich bietender Gelegenheit einen Happen aus der tschechoslowakischen Konkursmasse.

Schließlich führten der polnische Konfrontationskurs – nicht zuletzt die systematische Vertreibungspolitik gegen die Deutschen in den nach Versailles an Polen abgetretenen deutschen Gebieten – und die polnische Mobilmachung im Frühjahr 1939 zum „Überfall“ Deutschlands auf Polen. Die Rechnung schien aufzugehen; man hatte westliche Garantien und ein östliches Bündnis.

Aber damit kroch Polen dem russischen Bären gehörig auf den Leim. Der slawische Bruder „rückte“ ein Stückchen näher und manifestierte seine Verbundenheit in Katyn. Unter dem Deckmantel des Kommunismus konnte der „Bruder“ sein Kolonialreich ausbauen. Von der „Wiedererlangung der polnischen Westgebiete“ abgesehen zerplatzte der größenwahnsinnige Traum eines Großpolnischen Reiches am Bug.

Der Preis dafür war verdammt hoch: Millionen Kriegstote auf allen Seiten.

Und von den über zehn Millionen vertriebenen ostdeutschen Zivilisten haben zwei Millionen die von Polen nach Kriegsende verübten Mißhandlungen und Gewalttaten nicht überlebt.

Der frühere Präsident Litauens, Vytautas Landsbergis, sprach es unverblümt aus: „Die Deutschen in den von den Sowjets eroberten Gebieten sind Opfer eines Völkermords geworden (…). Seltsamerweise gibt es heute in Deutschland kein Bewußtsein für diesen Genozid. Die Deutschen wissen vom Völkermord an den Juden, den Indianern, den Armeniern, aber nichts von dem an ihnen verübten.“[1]

Polen war nicht das unschuldige Opfer, als das es sich bislang gern darstellte.

Die „Wiedererlangung“ des Grundbesitzes erfolgte rustikal. Das frühere Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte stellte fest: „Vielfach in der Weise, daß die betreffenden Polen sich in den deutschen Dörfern und Städten einen Hof oder ein Haus aussuchten, sich diese von den zuständigen polnischen Bürgermeistereien anweisen ließen und mit Hilfe polnischer Miliz die Deutschen aus dem gewünschten Grundstück vertrieben (…), wobei die deutschen Einwohner oft in Minutenfrist und mit nur wenigem Gepäck ihre Wohnungen verlassen mußten.“[2] Übrigens lebten 1947 nach polnischen Angaben in den deutschen Ostgebieten 4,5 Millionen Menschen. Von den bis Ende 1946 angesiedelten Polen stammten rund 1,4 Millionen aus dem an Rußland abgetretenen Ostpolen, knapp 2 Millionen kamen aus Zentral- und Südpolen.

Es gibt hier keine Tradition“, sagt Bernard aus Agnetendorf, dessen Vorfahren aus der Lemberger Gegend stammen.

Natürlich nicht. Die Traditionen haben die Deutschen mitgenommen. Und so kommt der in einem Geschäft am Hirschberger „Ring“ als Riesengebirgsspezialität angepriesene Kräuterlikör eben nicht mehr aus dem nahen Stonsdorf sondern aus Niedersachsen. Genauso wie der Stolper Jungchen (Rügener Badejunge), das Danziger Goldwasser, die originale Bunzlauer Keramik, der ostpreußische Bärenfang oder das Königsberger Marzipan, deren Herstellung heute in Mecklenburg, Niedersachsen, Sachsen, Nordrhein-Westfalen und Berlin stattfindet. Das Wertvollste konnten die Vertriebenen, sofern sie nicht zu den zwei Millionen Opfern zählten, mitnehmen: ihr Wissen. Denn heutzutage – und das war auch schon vor 70 Jahren so – ist nicht der physische Besitz von Land entscheidend, sondern was Menschen daraus machen. Die allenthalben sichtbaren verfallenen Häuser und brachliegenden Felder von Westpreußen bis Schlesien sprechen noch immer eine beredte Sprache. Man fragt sich bei deren Anblick nur: Wozu all das Leid und die menschlichen Opfer? Polen hatte Mühe, die riesigen Gebiete – nahezu ein Viertel von Vorkriegsdeutschland – zu besiedeln. Oder andersherum: Ein Drittel des heutigen Polens war noch vor dem letzten Kriege deutsches Gebiet. Und wozu benötigt man einen Stettiner Hafen, wenn hauptsächlich Äpfel nach Deutschland ausgeführt werden?

Die freundliche junge Frau im Hirschberger Riesengebirgsmuseum kann auf die Frage nach Otto Finsch, dem 1839 in Warmbrunn geborenen, bedeutenden Völkerkundler und Forschungsreisenden, in gutem Deutsch aber nur mit verlegenem Lächeln antworten: „Den Namen habe ich noch nie gehört.“ Auch die junge Frau in der Warmbrunner Touristeninformation kann nach einem Blick auf eine Abbildung der Gedenktafel an Finschs Geburtshaus, einigem Suchen im Internet und einem erkundigenden Telefonat nur feststellen: „Eine solche Gedenktafel gibt es hier nicht.“

So wird die fast autoleere Betonpiste zwischen Forst und Sagan zur Metapher der abgeschnittenen Verbindungen.

Zwischen Deutschen und Polen, die durch den vollständigen Bevölkerungsaustausch der natürlichen Übergangsgebiete wie Oberschlesien oder der ehemaligen Provinz Posen beraubt wurden. Die Grautöne verschwanden; jetzt prallt Schwarz auf Weiß.

Aber auch der Verbindung der Menschen zu ihrer Identität, zu ihren Wurzeln. Der heutige Westpole hat keine Tradition; Fragen nach Dingen vor 1945 laufen ins Leere. Aber auch die Deutschen ostdeutscher Herkunft sind entwurzelt, können keine Verwandten mehr in Thorn, Kolberg oder Liegnitz besuchen. Können auch niemanden dort fragen: in Toruń, Kołobrzeg oder Legnica.

Wozu bedürfte es also breiter Autobahnen und einer direkten Zugverbindung von Berlin nach Stettin?

Die in der Hirschberger ehemals evangelischen Gnadenkirche von Johann Gottfried Schadow geschaffene Bronzebüste Martin Luthers sucht man vergebens. Dafür stehen vor der Eingangstür unter wehender Nationalflagge gleich zwei neue bronzene Büsten, überlebensgroß den polnischen Papst darstellend. Selbstverständlich ist auch die Gedenktafel für Friedrich den Großen, der im gegenüberliegenden Haus wiederholt wohnte, nicht mehr vorhanden. Dafür wurden unlängst die nach 1945 ungeachtet katholischer Frömmigkeit zerstörten barocken Gruftbauten aus Mitteln der Europäischen Union nach besten Möglichkeiten rekonstruiert. Wie in Antikenmuseen sind die Bruchstücke der zerschlagenen Grabkreuze, Heiligenfiguren und Inschriftentafeln an der Friedhofsmauer befestigt oder wieder zusammengefügt worden. Junge Familien mit Kinderwagen, die, wie andere, den Friedhof als Park nutzen, gehen verständnislos an den barocken Grabtafeln der „wohlgerathenen Tochter“, der „liebreichen Mutter“ und des „vornehmen Kauf- und Handelsmanns“ vorüber.

Die Suche nach der Identität der Landschaft – und letztendlich der Menschen – führt immerhin zur Bereitschaft, sich ansatzweise der Geschichte anzunähern, sich ihr zumindest nicht mehr zu widersetzen. Die „Westpolen“ benutzen Deutschen gegenüber ja durchaus die deutschen Ortsnamen. Nur die politisch korrekten Deutschen haben damit ein Problem. Lieber versuchen sie sich an Zungenbrechern wie Świnoujście, was bei der jungen polnischen Ärztin Aleksandra, die – wie sie selbst sagt – aus „Breslau“ stammt und seit Jahren in der Bundesrepublik lebt und arbeitet, nach mehrmaligem verständnislosen Nachfragen feststellt: „Ach so, Du meinst Swinemünde.“ Bei Warszawa und Praha sind wir nicht so konsequent.

Das Hirschberger Riesengebirgsmuseum spart zwar die „ethnischen Säuberungen“, das „Verschwinden“ der Deutschen in seiner Darstellung der geschichtlichen Entwicklung noch aus, aber auf einer Erklärungstafel liest man immerhin die differenzierende Formulierung von „den an Polen im Westen und Norden angeschlossenen Gebieten, die damals als wiedergewonnene Gebiete bezeichnet wurden“.

Und wie sieht die Zukunft aus?

Ist mit dem sogenannten Zwei-plus-Vier-Vertrag alles geregelt? Genügt es, wenn der Bundespräsident im deutschen Namen zum x-ten Male den Gang nach Canossa antritt? Wird ein „vereintes“ Europa schon irgendwie alles richten?

Man kann Zweifel haben.

Jan Lipski schrieb schon 1981: „Als eine Nation, die sich dem westlichen Mittelmeer-Kulturkreis zugehörig fühlt, träumen wir von einer Rückkehr in unser größeres Vaterland Europa. Daher die Notwendigkeit der Aussöhnung mit den Deutschen, die schon in diesem Europa sind und darin bleiben werden. (…) Ich bin davon überzeugt, daß die Überwindung des nationalen Größenwahns (…) [des polnischen Volkes] eines der wichtigsten Probleme unserer Gegenwart und Zukunft darstellt.“[3] Und er beruft sich dabei auf den Brief polnischer Bischöfe von 1965 an die deutsche Bischofskonferenz: „Wir vergeben und bitten um Vergebung.“

Dem Deutsch-Russen Alexander Herzen wird die Äußerung nachgesagt, der Grenzpfahl Europas stehe bei Eydtkuhnen, dem nahezu östlichsten Ort Ostpreußens, der Grenzstation der ehemaligen Eisenbahnstrecke von Königsberg nach Sankt Petersburg. Dahinter beginnt nach Karl Emil Franzos „Halb-Asien“.[4] Der Grenzpfahl wurde 1945 ein paar hundert Kilometer nach Westen verschoben. Heute steht er wohl im schlesischen Zentendorf.

Es ist an den Polen zu entscheiden, ob er dort stehenbleibt.

Anmerkungen


[1] Junge Freiheit 19/05 vom 6. Mai 2005

[2] Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte (Hrsg.), Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße, Bonn 1954, S.116

[3] Lipski, Jan Józef: Zwei Vaterländer – Zwei Patriotismen. Bemerkungen zum nationalen Größenwahn und zur Xenophobie der Polen, in: Wir müssen uns alles sagen … Essays zur deutsch-polnischen Nachbarschaft, Warschau 1996, S. 192 und 227

[4] Franzos, Karl Emil, Aus Halb-Asien, 1876

 

print