Roger Kunert

Über die Ordnung des Gemeinwesens

Über die Ordnung des Gemeinwesens

Es stellt sich die Frage nach den Grundlagen der Ordnung des Gemeinwesens. Ist es das Mehrheitsprinzip, sind es gleiche Rechte, sind es Parlamentswahlen, ist es Meinungsfreiheit, ist es die Gewaltenteilung?

Das Ding, oder nordisch: Thing, war die germanische Form der Volksversammlung. Dabei muß unterschieden werden zwischen dem Bezirksding, das für die Belange von Teilgebieten zuständig war, und dem Allding, welches Angelegenheiten des gesamten Volkes regelte. Das Allding fand regelmäßig statt. Es stellte das höchste Staatsorgan dar; ein Präsident oder Monarch im heutigen Sinne existierten nicht. Die Dingstätte war umhegt und galt als heilig. Während des Dinges galt Friedenspflicht. Abgesehen vom außerordentlichen, „gebotenen“ Ding, das zur Erledigung unvorhergesehener dringlicher Ereignisse einberufen wurde, fand das „ungebotene“ Ding zu bestimmten festgesetzten Zeiten bei Neu- oder Vollmond statt.

Die Versammelten erschienen in Waffen; wer als ehrlos galt, war ausgeschlossen. Neben der vorgenommenen Rechtsprechung unter Leitung des Vorsitzenden wurde auf dem Ding auch der Vorsitzende selbst, der zwischen den Dingen mit der laufenden Geschäftsführung betraut war, bestimmt. Als Repräsentant der Macht und Einheit des Volkes war er an die Beschlüsse der Volksgemeinde gebunden. Seine Autorität beruhte auf dem Ansehen, das er durch sein persönliches Vorbild erwarb. Beim Ding galt sein Wort als gewichtiger Rat, nicht als Anordnung.

Tacitus schreibt in der „Germania“: „Die Könige nehmen sie nach ihrem Adel, die Heerführer nach der Tapferkeit. Auch die Könige haben keine schrankenlose und willkürliche Gewalt, und die Heerführer gewinnen ihre ausgezeichnete Stellung mehr durch ihr Vorbild als durch Befehlsgewalt, durch die Bewunderung, die sie einflößen, wenn sie entschlossen sind, wenn sie sich hervortun, wenn sie Vorkämpfer sind.“ [1]

Über die Entscheidungsfindung schreibt Tacitus:

„Über weniger wichtige Angelegenheiten halten die Häuptlinge Rat, über wichtigere alle, doch in der Weise, daß auch diejenigen Gegenstände, worüber das Volk die Entscheidung hat, von den Häuptlingen vorbehandelt werden.“ [2]

„Sobald es dem versammelten Haufen gefällig ist, lassen sie sich bewaffnet nieder. Die Priester, die dann das Recht zur Bestrafung haben, gebieten Stille. Sofort hört man den König oder den Häuptling an, je nach dem Einfluß, den jedem seine Jahre verliehen haben oder sein Adel oder seine Auszeichnung im Krieg oder seine Beredsamkeit, wobei jene eigentlich nur einen gewichtigen Rat geben können, aber keine Befehlsgewalt haben. Mißfällt der Vorschlag, weisen sie ihn durch lautes Murren zurück; gefällt er ihnen aber, schlagen sie die Framen zusammen. Die ehrenvollste Art der Zustimmung ist es, mit den Waffen den Beifall zu äußern.“ [3]

Der frühere südafrikanische Präsident Nelson Mandela schildert seine Eindrücke eines Xhosa-Stammestreffens wie folgt: „Meine späteren Vorstellungen von Führerschaft wurden grundlegend beeinflußt durch meine Beobachtungen des Regenten und seines Hofes. Ich verfolgte die Stammestreffen, die regelmäßig im Großen Platz stattfanden, und lernte daraus. Der Zeitpunkt dafür war nicht von vornherein festgesetzt, die Versammlungen wurden anberaumt, wie es die Ereignisse erforderten. (…)

Bei solchen Gelegenheiten war der Regent umgeben von seinen ‚Amaphakathi‘, einer Gruppe von hochrangigen Beratern, die das Parlament des Regenten bildeten und die Rechtsprechung ausübten. Es waren weise Männer, die sich gründlich in der Stammesgeschichte und in den Sitten auskannten und deren Meinungen großes Gewicht hatten. (…)

Die Gäste versammelten sich vor dem Haus des Regenten, und er eröffnete die Versammlung, indem er allen für ihr Kommen dankte und ihnen erklärte, aus welchem Grund er sie zusammengerufen hatte. Danach äußerte er kein einziges Wort, bis zu dem Zeitpunkt, da die Versammlung sich ihrem Ende näherte.

Es sprach jeder, der sprechen wollte. Es war Demokratie in ihrer reinsten Form. Unter den Rednern mag es zwar eine Hierarchie geben, was die Bedeutung der einzelnen betrifft, doch wurde jeder angehört, ob Häuptling oder einfacher Mann, Krieger oder Medizinmann, Ladenbesitzer oder Farmer, Landbesitzer oder Arbeiter. Die Leute sprachen ohne Unterbrechung, und die Treffen dauerten viele Stunden. Grundlage der Selbstregierung war, daß alle Männer ihre Meinungen offen vortragen konnten und in ihrem Wert als Bürger alle gleich waren. (Frauen wurden  bedauerlicherweise als Bürger zweiter Klasse eingestuft.) (…)

Zunächst erstaunte mich die Heftigkeit – und der Freimut – , mit der Leute den Regenten kritisierten. Er war keinesfalls über Kritik erhaben – vielmehr war er sogar häufig die Zielscheibe von Kritik. Aber mochte die Attacke auch noch so gefühlsbetont sein, der Regent hörte einfach zu, ohne sich zu verteidigen, ohne seinerseits irgendeine Emotion zu zeigen.

Die Zusammenkünfte dauerten so lange, bis irgendeine Art von Konsens erreicht war. Ein Treffen konnte nur in Einstimmigkeit enden oder überhaupt nicht. Einstimmigkeit konnte allerdings auch darin bestehen, daß man darin übereinstimmte, nicht übereinzustimmen, und zu warten, bis die Zeit günstiger war, um eine Lösung vorzuschlagen. Demokratie bedeutete, daß alle Männer angehört werden mußten und daß eine Entscheidung gemeinsam getroffen wurde, als ein Volk. Herrschaft einer Mehrheit war eine fremdartige Vorstellung. Eine Minderheit würde nicht durch eine Mehrheit erdrückt werden.

Erst am Ende des Meetings, wenn die Sonne im Untergehen begriffen war, sprach der Regent wieder, und er unternahm es, das zusammenzufassen, was gesagt worden war, und versuchte, zwischen den verschiedenen Meinungen einen Konsens herzustellen. Konnte ein solcher Konsens nicht erreicht werden, so würde es ein weiteres Meeting geben. (…) In meiner eigenen Rolle als Führer bin ich stets diesen Prinzipien der Führerschaft gefolgt, wie sie seinerzeit der Regent demonstrierte. Ich habe immer versucht, mir das anzuhören, was jeder einzelne in einer Diskussion zu sagen hatte, bevor ich meine eigene Meinung vortrug.“[4]

Man muß bei afrikanischen Gesellschaften berücksichtigen, daß Meinungsbildung oft schon im Vorfeld im Familienverband in entsprechender Weise stattfindet, der Teilnehmer am Stammestreffen also schon ein Repräsentant ist. Wahlen im Sinne parlamentarischer Systeme („One man, one vote“) sind mit dieser Form der Meinungsbildung unsinnig.

In den genannten Beispielen – eine entsprechende Form des Vorgehens ist übrigens auch aus dem antiken Griechenland überliefert – werden Entscheidungen auf der Grundlage allgemeiner Akzeptanz gefällt. Wesentlich ist das Zusammenkommen, das Reden miteinander, das Abwägen von Argumenten und Alternativen; in der Erkenntnis, daß die Güte einer Entscheidung nicht von einer rein zahlenmäßigen Mehrheit abhängt, die zudem stärker den Gefahren der Manipulation unterliegt.

Schiller läßt im „Demetrius“ den Lew Sapieha auf dem polnischen Reichstag sagen: „Die Mehrheit? Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn; Verstand ist stets bei Wen'gen nur gewesen. (...) Man soll die Stimmen wägen, und nicht zählen; der Staat muß untergehn, früh oder spät, wo Mehrheit siegt und Unverstand entscheidet.“[5]

Und Karl Jaspers fügt hinzu: „Eine Demokratie ohne Aristokratie ist eine Ochlokratie, eine Pöbelherrschaft, die sich auf die Dauer selbst zerstört.“

Demnach bedürften Mehrheiten einer qualitativen Ergänzung, einer „Aristokratie“, einer „Herrschaft der Besten“ – kurzum: Es bedarf der gelebten Vorbilder. In unseren Beispielen waren es die Häuptlinge.

Und Nietzsche, der sich weniger um die Staatsform sorgt, sagt: „Gleiches Recht für alle – das ist die ausbündigste Ungerechtigkeit; denn dabei kommen die höchsten Menschen zu kurz.“[6]

Aber offenbar kommen eben nicht nur „die höchsten Menschen“ in ihren Entfaltungsmöglichkeiten zu kurz – sondern auch das Gemeinwesen, wenn „die Besten“ als „Gleiche“ behandelt werden: „Man soll die Stimmen wägen, und nicht zählen.“

Abgesehen davon, sind die Menschen nun einmal nicht alle gleich. Selbst die „Mutter der Demokratie“ im antiken Griechenland war eine „Demokratie der Besten“, keineswegs eine für alle. Frauen, Sklaven und Fremde gehörten nicht zum „Demos“, zum Staatsvolk. Nun wird heutzutage niemand mehr – jedenfalls in unserem Kulturkreis – Frauen vom politischen Meinungsbildungsprozeß ausschließen wollen, und Sklaven gibt es nicht mehr. Aber die Frage nach der Qualifikation zur Teilhabe bleibt im Raum. „Ehrlose“ durften bei den Germanen eben nicht teilhaben. Und Vereinsmitglieder haben in der Regel nur dann Stimmrecht, wenn sie ihren Mitgliedsbeitrag rechtzeitig bezahlt haben.

Am Ende ist verordnete Gleichheit, sprich: Gleichmacherei, ungerecht. Denn wenn alle Menschen mit dem gleichen Maß gemessen werden, wenn also die sprichwörtlichen Äpfel und Birnen miteinander verglichen werden, tut man den Verglichenen unrecht. Anstatt die Menschen in ihrer Ungleichheit aber Gleichwertigkeit zu akzeptieren, und sich an der dadurch bestehenden Vielfalt zu erfreuen, schafft erst die vermeintliche Gleichheit und damit Vergleichbarkeit Wertigkeiten. Andersartigkeit wird erst dadurch zu Höher- oder Minderwertigem. Afrikanische Lehmhäuser werden erst dadurch zu bemitleidenswerten Zeichen von „Armut“ statt zu akzeptiertem Ausdruck ihrer Kultur. Diese „Gleichheit“ soll gerecht sein?

„Denn die Menschen sind nicht gleich: so spricht die Gerechtigkeit.“[7]

Mehrheit und Gleichheit scheinen also fragwürdige Kriterien für die Ordnung des Gemeinwesens.

Entscheidend scheint zu sein, ob – mit Polybios – die Herrschaft mit Einverständnis der Untertanen ausgeübt wird oder nicht.

In diesem Sinne war ein Monarch wie Friedrich der Große vielleicht „Demokrat“: Herrschaft nicht „durch das Volk“, auch nicht „demokratisch“ gewählt, aber „für das Volk“, im Interesse des Volkes. Und er war Vorbild. Seine Herrschaft war damit vielleicht eine bessere „Demokratie“ als die durch gewählte Parlamente ausgeübte, denen es an „den Besten“ fehlt, und die – nach Polybios und Jaspers – zur Pöbelherrschaft entartet.

Auch gab es im Preußen Friedrichs des Großen Freiheit nicht nur der Meinung („Jeder soll nach seiner Façon selig werden.“) und ein hohes Maß an Rechtstaatlichkeit. Insofern waren die Bürger „gleich“, aber ohne Nivellierung, – und Friedrich vielleicht ein Glücksfall.

Denn die Monarchie kann auch zur Tyrannis werden. Wie die Demokratie zur Herrschaft des Pöbels.

Aristoteles spricht sich für eine Mischform von – griechisch-elitärer – Demokratie und Oligarchie aus, um eine Entartung der Demokratie zur Pöbelherrschaft zu vermeiden.

Germanen und Xhosas waren von dieser Vorstellung wohl nicht allzu weit entfernt.

Anmerkungen


[1] Tacitus, Publius Cornelius, Germania, Kapitel 7,1

[2] Tacitus, Publius Cornelius, Germania, Kapitel 11,1

[3] Tacitus, Publius Cornelius, Germania, Kapitel 11,4-6

[4] Mandela, Nelson, Der lange Weg zur Freiheit, Frankfurt / Main, 1994, S. 34 ff

[5] Schiller, Friedrich, Sämtliche Werke in zwölf Bänden, Leipzig o. J., Bd. 7, S. 167

[6] Nietzsche, Friedrich, Also sprach Zarathustra, Aus dem Nachlaß 1882-1885, Leipzig 1925, S. 485

[7] Nietzsche, Friedrich, Also sprach Zarathustra, Aus dem Nachlaß 1882-1885, Leipzig 1925, S. 185

 

 

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