Roger Kunert

Wo hast Du Dich verborgen, Geliebter?

„Wo hast Du Dich verborgen, Geliebter?“

„Ich saß auf einem Stein und schlug ein Bein über das andere; darauf setzte ich den Ellenbogen; in meine Hand hatte ich das Kinn und eine Wange geschmiegt. So dachte ich eindringlich nach, auf welche Weise man auf der Welt leben müsse …“

Walther von der Vogelweide

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Eckhart von Hochheim, bekannt als Meister Eckhart, schreibt im 13. / 14. Jahrhundert:

„Dies Buch ist schwer und vielen Leuten unverständlich. Deshalb soll man es nicht gemein machen, darum bitt ich euch bei Gott! Denn es ward mir auch verboten. Fände sich aber jemand, der es verwerfen wollte, daran wäre wahrlich nur seine Blindheit schuld. Denn es ist die lautere Wahrheit. Sollte aber etwas darin stehen, dem es im Ausdruck nicht gerecht geworden wäre, so wolle man es darum nicht mißverstehen! Denn unsere Rede wird ein Stammeln, wenn wir von der göttlichen Natur reden sollen.“[1]

„Es ward mir auch verboten“ – Eckhart bekommt Schwierigkeiten wegen seiner Äußerungen.

Dann hebt er an: „Alle Dinge, die da sind, sind nicht durch sich selber, sondern in der Ewigkeit entsprungen aus einem Urquell, der aus sich selber quillt, und in der Zeit aus Nichts erschaffen durch die heilige Dreifaltigkeit. Der Dinge ewiger Urquell ist ‚der Vater‘, der Dinge Urbild in ihm ist ‚der Sohn‘, und seine Liebe zu diesem Urbilde ist ‚der heilige Geist‘.[2]

„Gott – das sind drei, sie lieben einander und sind darin eins, bei euch zu wohnen.“ sagt auch Teresa von Ávila.

Eckhart verbindet hier den naturphilosophischen Urquell, den aristotelischen Urgrund des Seins, mit der christlichen Gottesauffassung. Denn, wie Joseph Ratzinger sagt:

„Mit allem Gesagten ist freilich der tiefste Grundzug christlichen Glaubens noch immer nicht ausgesprochen: sein personaler Charakter.“[3]

Schopenhauer meint, Eckhart habe „wundervoll tiefe und richtige Erkenntniß“ besessen, jedoch mußte er seine Gedanken „in die Sprache und Mythologie des Christenthums (…) übersetzen“.[4]

Eckhart weiter: „Eh es ein Sein gab, war Gott am Werke: er wurde zum Schöpfer, weil es kein Sein gab!“[5]

„Wer aber Gott suchen will, der muß ihn in der Gottheit suchen! (…) Oder in der Sprache des Philosophen: Der Mensch, der berührt wird von der Einwirkung der ersten Ursache, der braucht nicht Rat zu suchen bei menschlicher Verständigkeit; dem soll er folgen, was über allem Verstande ist, denn er ist berührt von der verborgenen ersten Wahrheit.“[6]

„Siehe! Dein Herz fühlt sich manchmal seltsam berührt und von der Welt abgewendet: wie könnte das anders geschehen, als durch das Einstrahlen dieses Lichtes? Das ist so zart und wonnesam, daß dich alles verdrießt, was nicht Gott oder Gottes ist. (…) Je mehr du dich ledig hältst, um so mehr Erleuchtung, Wahrheit und Einsicht wird dir zuteil!“[7]

„Ich erschrecke jedesmal, wenn ich von Gott reden soll, welchen Grad von Abgeschiedenheit die Seele besitzen muß, wenn sie zur Einswerdung gelangen will. Und doch darf es niemand unmöglich dünken! (…) Denn der Seele, die Gottes Gnade besitzt, ist es ein Kleines, alle Dinge zu lassen (…).“[8]

Sich „ledig halten“ und „alle Dinge zu lassen“ – sich frei machen und offen sein für die „Erleuchtung“, für die „verborgene erste Wahrheit.“ Das ist ein Kerngedanke bei Eckhart.

Nach Francisco de Osuna bringe man sein „Denken zum Schweigen, um ganz Aufmerksamkeit für Gott zu sein, und wenn du auf ihn dein Herz ausrichtest, tust du viel. Bist du dabei beharrlich, wirst du Gott empfangen, der seine Gnade alsbald einfließen läßt. Aber nicht auf dem Wege angeblicher Weissagungen und Offenbarungen, die, wie der heilige Bernhard sagt, wie quakende, niemals schweigende Froschgeister sind, sondern durch ein tiefinneres Wirken, das dein Herz berührt. Bonneval beschreibt das so: Wir schmecken und fühlen und riechen es in seinem Nahsein. Willst du es aber greifen, weicht es zurück. Es ist wie ein Strahl, der durch die Wolke bricht und mit plötzlichem Aufleuchten nicht sehend macht, sondern blendet: so wirst du mehrmals berührt, ich weiß nicht wie. Du fühlst es, weißt aber nicht, wer dich berührte. Geheime Worte vernimmst du im Innern, an denen du nicht zweifelst und die du doch nicht wiedergeben kannst. So ist ER, der um dich wirbt, bei dir und in dir.“[9]

Und weiter Eckhart: „Laß dir gesagt sein: völlige Stille, völlige Leere, das ist da dein Allerbestes! Du kannst dich nicht ohne Schaden von diesem Zustande fort irgend etwas Anderem zukehren. Du möchtest gerne bereitet werden (…) du kannst an die Bereitung gar nicht so schnell denken oder nach ihr begehren, Gott ist immer schon eher da.“[10]

„Der ist wirklich ‚arm im Geist‘, der alles das wohl entbehren mag, was nicht nötig ist. Das hat, dem Sinne nach, schon Diogenes gesagt, der in seiner Tonne nackt saß, und zwar zum großen Alexander, der alle Welt unter sich hatte. ‚Ich bin‘, sprach er, ‚ein viel größerer Herr als du! Denn ich habe mehr ausgeschlagen, als du in Besitz genommen hast. Was du für groß achtest zu besitzen, das ist mir zu gering, es erst noch ausdrücklich zu verschmähen!‘ Der ist viel seliger, der der Dinge nicht bedarf, als wer auf ihnen sitzt als auf lauter Unentbehrlich-keiten. Der ist der Beste, der dessen entraten kann, was für ihn nicht Notdurft ist.“[11]

„Bei dieser Rede bemerke ich noch: es ist das Zeichen eines kranken Herzens, so einer froh oder traurig wird um vergängliche Dinge dieser Welt.“[12]

Denn: „Je höher die Seele über den irdischen Dingen steht, umso mehr Kraft besitzt sie!“[13]

Johannes vom Kreuz, der spanische Mystiker des 16. Jahrhunderts, schreibt dazu:

„O du anmutig schöne Seele unter allem, was geschaffen ist, wie wünschst du so sehr den Aufenthalt deines Geliebten zu wissen, damit du ihn suchen und dich mit ihm vereinen kannst, hier wird es dir gesagt: Du selbst bist die Wohnung, wo er weilt, der Ort und das Versteck, wo er sich verbirgt. Das sollte dich zufriedenstellen und dir eine Freude sein, zu sehen, daß dein Heil und deine Hoffnung dir so nahe ist, ja in dir ist, um es besser zu sagen: daß du nicht ohne ihn sein kannst. Ja, ‚das Gottesreich ist mitten unter euch‘ (Luk. 17, 21), oder wie Paulus sagt: ‚Wir sind der Tempel des lebendigen Gottes‘ (2. Kor. 6, 16b). (…) Was verlangst du also mehr, o Seele?! Und warum suchst du mehr außerhalb von dir, wo doch in deinem Innern dein ganzer Reichtum, deine Freude, dein Geliebter wohnt? Wen erwünschst du, und was suchst du? Juble und erfreue dich in deiner inneren Zurückgezogenheit mit ihm, wo er dir so nahe ist. Hier ersehne ihn, hier bete ihn an, und versuche nicht, ihn draußen zu suchen, wo du dich zerstreuen und ermüden wirst. Du findest ihn nicht sicherer, nicht schneller und näher und wirst ihn nicht genießen als in dir. Nur eines aber mußt du wissen: auch wenn er in dir ist, so doch verborgen. Aber es ist schon etwas Wunderbares, den Ort zu kennen, wo er verborgen weilt, um ihn dort mit Sicherheit zu suchen. Und das ist es ja, meine Seele, was du erbittest, wenn du voller Liebe rufst: Wo hast Du Dich versteckt, Geliebter?“[14]

Und er dichtet in seinem „Geistlichen Gesang“:

„Halt ein, du toter Nordwind,

und komm, du Südwind, der die Liebe aufweckt,

atme durch meinen Garten,

daß Düfte er verströme

und zwischen Blumen wird mein Liebster weiden.“[15]

Der Garten ist der verborgene Ort. An seiner Pforte wird dem „toten Nordwind“ Einhalt geboten, werden „alle Dinge gelassen“. Dagegen öffnet sich die suchende Seele dem zärtlichen Südwind, der des Gartens Blüten aufweckt, daß sie in aufblühender Schönheit ihre Düfte verströmen. Der Südwind erweckt das Vorhandene zum Leben, zur Tugend. Die Geliebten werden dadurch vereint.

Und auch Eckhart sieht das so, wenn er schreibt: „ (…) weil Gott verborgen liegt im Grunde der Seele.“[16]

„Denn die Seele ist gleich beschaffen mit der Gottheit. (…) Sie ist es, indem sie ein Bild Gottes ist. Als solches aber ist sie auch das Reich Gottes. (…) Dermaßen, sagt ein Meister, ist Gott in der Seele, daß sein ganzes Gottsein auf ihr beruht. (…) Verlaßt euch darauf: Gott ist selber selig in der Seele!“[17]

„So wird die Seele eine himmlische Behausung der ewigen Gottheit. (…) In sie gebiert der himmlische Vater seinen Sohn. (…) In sie hauchen beide, Vater und Sohn, den heiligen Geist.“[18]

„(…) beider Liebe und Güte ist der heilige Geist; und die drei sind eins in der göttlichen Natur und unterschieden nur als Personen.“[19]

Joseph Ratzinger spricht vom „Widerfahrnis des Geistes, der Anwesenheit Gottes in uns, in unserer Innerlichkeit.“[20]

Weiter Eckhart: „Darum spricht ebenfalls Christus: das Reich Gottes ist in euch.“[21]

Es handelt sich um eine „Erhebung des Gemüts über alles Endliche, ein Aufgehen in Gott.“[22]

„Denn wir sollen in ihn verwandelt und allzumal geeinigt werden.“[23]

So sollen „ (…) wir auch Gottes Sohn werden. (…).“[24]

Auch Joseph Ratzinger, der sich auf den Apostel Johannes bezieht, schreibt:

„Christsein heißt für Johannes: Sein wie der Sohn, Sohn werden (…).“[25]

Und Eckhart faßt zusammen: „Denn der Mensch ist wahrlich Gott, und Gott wahrlich Mensch.“[26]

Nicht viel anders lautet es in der buddhistischen Lehre: „Jenen, die Vertrauen haben, gibt er die Möglichkeit, mit ihm eins zu werden. Buddha ist die allumfassende Substanz der Gleichheit. Wer auch immer an Buddha denkt, Buddha denkt auch an ihn und zieht freimütig in dessen Geist ein.“[27]

Auch in der islamischen Sufi-Mystik finden wir diesen Gedanken. So schreibt Rumi, der persische Sufi-Mystiker und Gelehrte, im 13. Jahrhundert:

„Ich war schon da an dem Tage, als Worte noch nicht bekannt,

auch von den Werken der Schöpfung noch keinerlei Spur sich fand.

Die Worte und Dinge traten durch mich in Erscheinung hier,

obwohl noch nicht sichtbar geworden das Wunder von Ich und Wir.

Doch warf schon voraus sein Zeichen der Duft von des Freundes Haar,

obwohl er für meine Sinne noch gar nicht wahrnehmbar war.

Ein finsterer Götzentempel ließ ein mich durch sein Portal,

kein Bildnis war noch zu erkennen, und alles war grau und kahl.

Ich stieg auf den Kaf-Berg und schaute mich um nach dem Vogel Anka.

Auch dort war nur Öde und Leere, der Vogel war noch nicht da.

Ich lenkte, die Sehnsucht zügelnd, die Schritte zur Kaba hin,

zu suchen, was alle dort suchen, doch fand ich es nicht darin.

Zum Platz, der zwei Bogen entfernt ist von Gott, gelangte ich dann,

doch traf ich am heiligen Hofe den König des Himmels nicht an.

Als ich in die eigene Seele mir blickte, da wurde mir klar,

daß schon seit Ewigkeiten in mir sein Wohnsitz war.“[28]

„Ich schaute in mein eigenes Herz; da sah ich ihn. Er war nicht anderswo.“[29]

Wenn das Göttliche schon in uns ist, wie können wir uns in Harmonie mit ihm begeben?

Augustinus schreibt im 4. Jahrhundert: „Wie soll ich meinen Gott anrufen, meinen Gott und Herrn? Ich rufe ihn ja in mich selbst, so oft ich ihn anrufe.“[30]

Aber Joseph Ratzinger widerspricht dem und meint: „Das Programmm des frühen Augustin ‚Gott und die Seele – nichts sonst‘ ist unrealisierbar, es ist auch unchristlich. Religion gibt es letztlich nicht im Alleingang des Mystikers, sondern nur in der Gemeinsamkeit von Verkündigen und Hören.“[31]

Ratzinger betont, es gebe „religiös ‚Begabte‘ und ‚Unbegabte‘.“ Und „diejenigen, denen unmittelbare religiöse Erfahrung (…) möglich ist“, seien „nur ganz wenige“, die wiederum für die „Unbegabten“ die „Mittler“ zur „Erfahrung des Heiligen“ seien.[32]

Das ist offizielle katholische Kirchendoktrin und steht natürlich im Widerspruch zu Eckhart, der meint, es sei nicht nötig, „Rat zu suchen bei menschlicher Verständigkeit“, um zu Gott zu finden.

„Wahrlich! In jedem, der also getreu wäre, in dem fühlte Gott so unaussprechlich große Freude, wollte man ihm die rauben, man raubte ihm sein Leben, sein Dasein und seine ganze Gottheit! Aber ich sage noch mehr: Erschrecket nicht! Denn diese Freude ist euch nahe und ist in euch. Es ist keiner unter euch so unbereitet, so ungeübt, so klein an Erkenntnis oder dem so fern: er kann diese Freude in sich finden, in ihrer vollen Wirklichkeit, als Wonne und als Erkenntnis, eh ihr noch eben aus der Kirche kommt, ja während ich eben noch predige; er kann es wahrlich in sich selber finden und erleben und besitzen, so wahr Gott Gott ist und ich ein Mensch! Des seid gewiß, denn es ist wahr, und die Wahrheit selber sagt es.“[33]

Auch Francisco de Osuna bekundet die „Absicht, die Übung der Kontemplation allgemein zugänglich zu machen.“ und stellt dazu fest: „Einige aber werden es nicht gern sehen, daß ich eine Übung von so feiner Kostbarkeit an Leute weitergebe, die in Sünden verstrickt und in weltliche Geschäfte verwickelt sind. (…) So suche du hier deinen Frieden und denke nicht, man müsse sich in Logik und Metaphysik auskennen, um sich dem kontemplativen Gebet zu widmen. Die mystische Theologie findet man in der Schule des Herzens. Im Unterschied zur Schultheologie kann sie daher von jedem Gläubigen erlangt werden, selbst von Weiblein und ungebildeten Laien. Ja, man kann sagen, daß die zur Kontemplation erforderliche Ruhe und Entleerung der Seele geistlichen Würdenträgern und sonstigen Hochgestellten schwerer fällt als einfachen Leuten, die nicht durch Ämter und Pflichten belastet und beunruhigt sind.“[34]

Wenngleich Eckhart für manche auch einen Sinn in einer „rastlichen Stätte“ wie der Kirche sieht – oder zu sehen vorgibt: „Es gehe einer über Feld und spreche sein Gebet und werde Gottes inne, oder er sei in der Kirche und werde Gottes inne: wird er Gottes darum mehr inne, weil er an einer rastlichen Stätte weilt, so rührt das von seiner Unvollkommenheit her, nicht geschieht es von Gottes wegen. Denn Gott ist der gleiche in allen Dingen und an allen Stätten, und immer bereit, sich in gleicher Weise zu geben, soweit das an ihm liegt; und der nur hat Gott wirklich gefunden, der ihn überall in gleichem Maße findet.“[35]

Und selbstverständlich widerspricht Martin Luther dem Erfordernis eines „Mittlers“, „weil alle Christen wahrhaftig geistlichen Standes sind und unter ihnen kein Unterschied ist denn des Amts halben allein; (…) das macht alles, daß wir eine Taufe, ein Evangelium, einen Glauben haben und gleiche Christen sind. (…) Demnach so werden wir durch die Taufe allesamt zu Priestern geweiht.“[36]

Eckhart bezieht sich auf Christus, wenn er schreibt: „Da sprach unser Herr: ‚Weib, die Zeit wird kommen, und sie ist jetzt da, wo die wahren Anbeter nicht mehr bloß auf dem Berge oder im Tempel beten werden, sondern im Geiste und in der Wahrheit beten sie den Vater an. Denn Gott ist ein Geist und wer ihn anbeten will, der muß ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.‘“[37]

„Ein Rechtgemuter nämlich, der hat Gott bei sich. Gott aber, hat man ihn überhaupt, so hat man ihn allerorten: auf der Straße und unter den Leuten so gut, wie in der Kirche oder in der Einöde oder in der Zelle.“[38]

Oder wie Teresa von Ávila kraftvoll erklärt: „Denn auch wenn euch der Gehorsam viele äußere Verpflichtungen auferlegt, etwa in der Küche, so wisset: auch zwischen den Kochtöpfen wandelt der Herr.“[39]

Und auch Ratzinger betont, daß Gott „überall da anwesend und mächtig ist, wo der Mensch sich findet.“[40]

Martin Luther schreibt in seinem Traktat „Von der Freiheit eines Christenmenschen“:

„Also hilft es der Seele nichts, ob der Leib heilige Kleider anlegt, wie die Priester und Geistlichen tun; auch nicht, ob er in den Kirchen und heiligen Stätten sei; auch nicht, ob er mit heiligen Dingen umgehe; auch nicht, ob er leiblich bete, faste, walle und alle guten Werke tue, die durch und in dem Leibe geschehen möchten ewiglich. Es muß noch ganz etwas anderes sein, das der Seele Frömmigkeit und Freiheit bringe und gebe. Denn alle diese obgenannten Stücke, Werke und Weisen mag auch an sich haben und üben ein böser Mensch, ein Gleißner und Heuchler. Auch wird durch solches Wesen kein ander Volk denn eitel Gleißner. Wiederum schadet es der Seele nichts, ob der Leib unheilige Kleider trägt, an unheiligen Orten ist, ißt, trinkt, wallet, nicht betet und läßt alle die Werke anstehen, die die obgenannten Gleißner tun.“[41]

Und Eckhart fragt: „‘Wie das?‘ (…) – ‚Soll ich Gott so, ohne Vermittelung, erkennen, da muß ich ja geradezu er, und er ich werden!‘ – Aber das meine ich ja gerade! Gott muß geradezu ich werden, und ich geradezu Gott: so ganz eins, daß dieses Er und dieses Ich Eines werden und es bleiben und – als das reine Sein selber – in Ewigkeit desselben Werkes walten! Denn solange nicht dieses Er und dieses Ich, oder Gott und die Seele, ein einziges: Hier! ein einziges: Jetzt! sind, solange vermöchte das Ich nie mit dem Er zusammenzuwirken oder gar einszuwerden.“[42]

Interessanterweise ist der Gedanke, die Nähe des Göttlichen „an allen Stätten“ zu finden, ein sehr alter. Schon der römische Historiker Tacitus weiß von den Germanen zu berichten:

„Übrigens finden sie es der Größe der Himmlischen nicht angemessen, die Götter in Tempelwände zu bannen oder sie irgendwie menschlichen Zügen ähnlich darzustellen. Haine und Waldtriften betrachten sie als heilig und bezeichnen mit dem Namen Gottheit jenes Geheimnisvolle Etwas, das sie einzig mit dem Auge der Andacht schauen.“[43]

Auch Seneca sieht das ähnlich: „Wenn du einem Haine nahst, der mit alten, ungewöhnlich hohen Bäumen zahlreich bestanden ist und in welchem der Schatten der einander deckenden Zweige das Himmelslicht verbirgt: diese schlanke Höhe des Waldes, das Geheimnisvolle des Ortes, die Bewunderung des in dem weiten Hain so dichten und ununterbrochenen Schattens ruft in dir den Glauben an die Gottheit wach.“[44]

Und auch der mittelalterliche Abt und Mystiker Bernhard von Clairvaux schreibt: „Glaube mir, denn ich habe es erfahren, du wirst mehr in den Wäldern finden als in den Büchern. Bäume und Steine werden dich lehren, was du von keinem Lehrmeister hörst.“[45]

Und Johannes vom Kreuz dichtet:

„Mein Geliebter ist alles:

Die Berge,

Die bewaldeten einsamen Wälder,

Die unbewohnten Inseln,

Die rauschenden Flüsse,

Das Flüstern der lieblichen Lüfte;

Die friedvolle Nacht

Sowie die aufsteigende Morgenröte,

Die schweigende Musik,

Die klangvolle Einsamkeit,

Das Abendmahl, das belebt und Liebe schenkt!“[46]

Rabindranath Tagore, der indische Dichter und Philosoph, schreibt im 20. Jahrhundert:

„Laß dies Singen von Chorälen, dieses Perlenzählen

An dem Rosenkranz!

Wen verehrst du im entlegenen, dunklen Winkel eines Tempels,

Dicht geschlossen jedes Tor?

Mach auf die Augen, sieh! Dein Gott ist nicht vor dir.

Dort ist er, wo der Bauer pflügt auf hartem Grund;

Dort, wo der Wegemacher Steine bricht.

Bei ihnen ist er, im Sonnenstrahl und Regenschauer.

Sein Kleid ist ganz mit Staub bedeckt.

Leg deinen heiligen Mantel ab, tu es ihm gleich

Und steig herab zum Staub der Erde!

Erlösung? Wo findest du Erlösung?

Hat unser Meister selbst nicht freudig sich die Fessel,

Die Geschaff’nes bindet, angelegt?

Er ist mit uns gebunden, für immer mit uns allen.

Komm du heraus aus tiefer Selbstversenkung.

Laß Weihrauch, deine Blütenkränze laß beiseit‘!

Was macht es schon, wenn deine Kleider

Zerrissen oder fleckig werden?

Begegne Ihm und stelle dich zu Ihm

In Mühsal und im Schweiße deiner Stirn.“[47]

Der Gedanke ist also raum-, zeit- und kulturübergreifend.

Eckhart sagt; „Gott – ist was er ist; und was er ist, das ist auch mein; und was mein ist, das liebe ich; und was ich liebe, das liebt mich wieder und zieht mich in sich; und was mich in sich gezogen hat, das bin ich mehr als ich selber. Also lieben müßt ihr Gott, dann werdet ihr auch Gott mit Gott!“[48]

Liebe – ist das nicht eher etwas Menschliches? Liebe betrifft eine Beziehung – sei es die zu sich, sei es die zu einem menschlichen oder die zum göttlichen „Geliebten“.

Ist Liebe nicht der erhöhte Puls beim Gedanken an das Geliebte? Sind es nicht die „Schmetterlinge im Bauch“? Macht nicht das Liebe aus? Oder ist das bloß Verliebtsein, ein vorübergehender Rauschzustand, der sprichwörtlich „blind“ macht? Sind das bloß die von Eckhart wunderbar treffend so bezeichneten „schmelzenden Gefühle“[49]?

Edvard Munch meint, daß man den „Kampf zwischen Mann und Frau“ Liebe nennen könne. Ein Kampf, ein Gegeneinander, ein Kräftemessen – am Ende gar Herrschaft des Einen über den Anderen? Das soll „Liebe“ sein? Wozu brauchte man eine solche herrschende, oder wohl eher: gehorchende „Liebe“? Wobei das Leben uns ja – leider – auch immer wieder Derartiges vorführt. Aber soll man dafür das Wort „Liebe“ mißbrauchen?

Eckhart hingegen meint: „Wer etwas erbittet von dem Andern, der ist Knecht, wer die Bitte gewährt, Herr. Ich bedachte neulich: Ob ich wohl von Gott etwas annehmen oder erbitten möchte? Da will ich doch ernstlich mit mir zu Rate gehn! Denn indem ich von Gott etwas annähme, damit stünde ich unter Gott – ein Knecht, der unter seinem Herrn steht, durch das Geben. So soll es nicht mit uns stehn im ewigen Leben! Ich habe einst an dieser Stelle gesagt – und es ist noch wahr: Wo der Mensch Gott von draußen holt und hernimmt, der hat das Rechte nicht. Man soll Gott nicht außer sich suchen oder wähnen, sondern ihn nehmen, wie er mein eigen und in mir ist! Wir sollen auch nicht Gott dienen noch unsere Werke verrichten um irgend ein Warum: nicht um Gott noch um Gottes Ehre noch um irgend etwas, was außer uns wäre, sondern allein um dessentwillen, was in uns ist, als unser Wesen, unser eigenes Leben. Manche einfältige Leute wähnen, sie müßten Gott sehen als stünde er da und sie hier. Das gibt es nicht! Gott und ich wir sind eins im Erkennen. Und ebenso, ziehe ich Gott in mich in der Liebe, so gehe ich in Gott ein!“[50]

„Woher auch Christus sagt: ‚Ich heiße euch jetzo nicht mehr meine Knechte, sondern meine Freunde (…).‘ Ein Freund ist ein ander Ich, spricht ein Heide. Gott ist darum mein ander Ich geworden, damit ich sein ander Er würd‘.“[51]

Auch Teresa von Ávila sieht die Beziehung dergestalt: „Ich meine, daß wir es uns durchaus zur Gewohnheit machen können, uns darum zu bemühen, in Gesellschaft dieses echten Freundes unseren Weg zu gehen.“[52]

Und Eckhart fährt fort: „Es gibt keinen bessern Maßstab der Liebe als Vertrauen. Wenn man einen andern herzlich und hingegeben liebt, so ist damit das Vertrauen von selber gesetzt.“[53]

Vertrauen in den Anderen, in das Andere. Das Andere als Ergänzung zum Eigenen. Wäre das Andere nämlich das Gleiche wie das Eigene – brauchte man es nicht!

Liebe ist demnach nicht das Verschmelzen der Liebenden sondern die Einigung darüber, daß es weiterhin zwei Liebende bleiben, „Freunde“, die sich einig sind über das Anderssein. Liebe ist die Akzeptanz des Anderen, ohne Wertung, ohne Herrschaft. Liebe ist Einklang und in diesem Sinne „Einswerdung“. Und darum muß natürlich das Anderssein auf einer gemeinsamen Grundlage aufbauen.

Zunächst einmal muß jeder zu sich selbst stehen, ein gesundes Selbstbewußtsein haben, in sich selbst ruhen, Ja zu sich sagen.

Eckhart sagt: „Alle Liebe dieser Welt ist auf Eigenliebe gebaut.“[54]

Albert Schweitzer spricht von der „Ehrfurcht, die wir unserem eigenen Dasein entgegenzubringen haben“.[55] Selbstvertrauen ist eine Voraussetzung für die Liebe zu sich selbst. Wer sich selbst nicht vertraut, wie kann der einem anderen vertrauen? Wer sich selbst nicht liebt, wie kann der einen anderen lieben? Wer sich selbst nicht vertraut, sich selbst nicht liebt, wie kann der erwarten, daß ein anderer ihm vertraut, ihn liebt? Nochmals Eckhart: „Was mein ist, das liebe ich; und was ich liebe, das liebt mich wieder.“

Friedrich Schiller sagt in „Liebe und Begierde“: „Man liebt, was man hat; (…) denn nur das reiche Gemüt liebt (…)“[56]

Zur Liebe muß man demnach „reich“ genug sein. Und aus diesem Gefühl des Zu-sich-Ja-sagens und im Bewußtsein, das Göttliche in sich zu tragen, wird die Antwort eines Wikingers auf die Frage, woran er glaube, verständlich: „An meine Macht und Stärke.“

Da der Mensch ein soziales Wesen darstellt, und eine lebensabgewandte, ausschließlich der Kontemplation gewidmete Zurückgezogenheit nicht unbedingt erstrebenswert erscheint: Wende dich deinem Nächsten zu, eben dem, dem du vertrauen kannst. Denn Gott hat, wie es Luther ausdrückt, „geboten, daß ein Mann (…) seinem Nächsten diene und helfe.“[57]

„Darum rate ich, (…) jeglicher bleibe in seiner Pfarre (…). Hier findet man Taufe, Sakrament, Predigt und seinen Nächsten, welches größere Dinge sind denn alle Heiligen im Himmel (…).“[58]

Der „Nächste“ ist demnach etwas sehr Konkretes: „Und der Herr redete mit Mose und sprach: (…) Du sollst nicht rachgierig sein noch Zorn halten gegen die Kinder deines Volks. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“[59]

Und Horaz warnt: „Hic niger est, hunc tu, Romane, caveto!“ – Dieser ist schwarz (im Sinne von: Er hat eine schwarze Seele), vor diesem, Römer, nimm dich in acht![60]

Auch Albert Schweitzer, dessen Ziel es ist, „das Licht wahrer Humanitätskultur in der Welt aufleuchten zu lassen“, empfindet „alles Vernichten und Schädigen von Leben, wenn es uns nicht durch das Schicksal auferlegt ist, (…) als böse.“[61] Das meint selbstverständlich auch ein Schädigen unseres eigenen Lebens. Ein blindes Vertrauen gegenüber einer „schwarzen Seele“ durch einen Rauschzustand „schmelzender Gefühle“ hat schon manches Opfer gefordert.

Der Evangelist Matthäus läßt demgegenüber Jesus sagen: „Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel; sondern, so dir jemand einen Streich gibt auf deinen rechten Backen, dem biete den andern auch dar. (… ) Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen, auf daß ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel.“[62]

Abgesehen davon, daß – wenn man der Überlieferung Glauben schenken darf – Jesus diese Selbstverleugnung, diese Verneinung der „Eigenliebe“, letztendlich das Leben kostete, stellt sich die Frage, inwiefern das geradezu freudige Zulassen der eigenen Schädigung dem „Vater im Himmel“ gefallen sollte. Dies würfe vielmehr ein eigenartiges Bild auf diesen „Vater“, der mit dem liebenden „Freund“, dem „Gott in mir“, nicht viel gemein hätte.

Aber wir wollen es verstehen, „weil Christus, der Gott der Liebe, sie solche lehrt, die ein liebevolles Herz haben.“[63] wie Francisco de Osuna feststellt und weiter ausführt: „Die mystische Theologie, von der wir sprechen, erreicht ihr Ziel (…) durch hingebende Liebe und Übung in den geistlichen Tugenden, die die Seele läutern und für Gott bereiten. (…) Man nennt sie auch Unio, weil der Mensch, wenn er sich mit Gott vereint, mit ihm ein Geist wird durch eine Wechselseitigkeit des Willens, so daß weder der Mensch etwas anderes wünscht als das, was Gott will, noch Gott sich vom Wollen des Menschen trennt. (…) So daß, befänden wir uns alle in diesem Zustand, die Menge der Gläubigen nur noch ein Herz und eine Seele im Heiligen Geiste wäre, der aus dem Vater und dem Sohne hervorgeht.“[64]

Es ist dies aber der Wunsch unter der eben geschilderten Annahme, „befänden wir uns alle in diesem Zustand“ oder eben die biblische Utopie: „Wolf und Lamm werden bei einander weiden; der Löwe wird Stroh fressen wie die Rinder, und die Schlange sich von Erde nähren.“[65] Aber schon ein einziger „Löwe“, der sich nicht zum „vegetarischen“ Dasein entschließen kann, macht dieses Gedankengebäude zunichte.

In einer anderen Utopie war dies der „neue Mensch mit sozialistischem Bewußtsein“. Wohin dies führte, ist bekannt.

Albert Schweitzer spannt den Bogen jedoch über den Menschen hinaus – zu „aller Kreatur“: „Die elementare, uns in jedem Augenblick unseres Daseins zum Bewußtsein kommende Tatsache ist: Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will. (…) Das Grundprinzip der Ethik ist also Ehrfurcht vor dem Leben. (…) Durch ethisches Verhalten zu aller Kreatur gelangen wir in ein geistiges Verhältnis zum Universum.“[66]

Dies Einswerden mit dem Universum feiert Eckhart geradezu mit den Worten:

„Indem also ‚Gott‘ den Menschen machte, da schuf er sein angemessenes, sein ewig gültiges, sein ‚Wirkendes Werk‘. So groß war es, daß es nichts Geringeres war als die Seele: Die war das Werk Gottes! Gottes Natur, sein Wesen und seine Gottheit hängt daran, er muß wirken in der Seele. Gesegnet, gesegnet sei er drum! Weil Gott selber in der Seele tätig wird, darum liebt er dies sein Werk. Sein Wirken ist unser Lieben. Und diese Liebe ist Gott: in ihr liebt Gott sich selber, seine Natur, sein Wesen und seine Gottheit! In der Liebe aber, in der Gott sich selber liebt, in der liebt er auch alle Kreaturen – nicht als Kreaturen sondern als Gott: In dieser Liebe, in der Gott sich selber liebt, in der liebt er die ganze Welt.“[67]

Das ist der Weg zur Harmonie mit dem Weltganzen, zur Berührung mit der „verborgenen ersten Wahrheit.“

Eckhart schreibt: „Denn so weit bist du in Gott, als du im Frieden bist.“[68]

„Aus diesem innersten Grunde heraus sollst du alle deine Werke wirken, ohne ein Warum. Ich behaupte entschieden: solange du deine Werke verrichtest um des Himmelreichs, um Gottes oder um deiner Seligkeit willen, also von außen her, so bist du wirklich nicht auf dem Rechten. Man kann es ja wohl mit dir aushalten, doch das Beste ist das nicht. Denn wahrlich! Wer da wähnt, in Versunkenheit, Andacht, schmelzenden Gefühlen und sonderlichem Anschmiegen mehr von Gott zu haben als beim Herdfeuer oder im Stalle: da tust du nichts anderes, als ob du Gott nähmest und wickeltest ihm einen Mantel um das Haupt und stecktest ihn unter eine Bank! Denn wer Gott unter bestimmten Formen sucht, der ergreift wohl diese Form, aber Gott, der in ihr verborgen ist, entgeht ihm. Nur wer Gott unter keinerlei Form sucht, der ergreift ihn, wie er in sich selber ist. Ein solcher Mensch ‚lebt mit dem Sohne‘ – und ist selber das Leben. Wenn man das Leben fragte tausend Jahre lang: ‚Warum lebst du?‘ wenn es überhaupt antwortete, würde es nur sagen: ‚Ich lebe, um zu leben!‘ Das rührt daher, weil das Leben aus seinem eigenen Grunde lebt, aus seinem Eignen quillt; darum lebt es ohne ein Warum: es lebt nur sich selber! Und fragte man einen wahrhaften Menschen, einen der aus seinem eigenen Grunde wirkt: ‚Warum wirkst du deine Werke?‘ wenn er recht antwortete, würde er auch nur sagen: ‚Ich wirke, um zu wirken!‘“[69]

„Der Gerechte sucht nichts mit seinen Werken. Denn die es damit irgend worauf absehen, das sind alles Knechte und Mietlinge, solche die um ein Warum wirken; sei’s auch um Seligkeit oder ewiges Leben oder Himmelreich oder was immer in Zeit oder Ewigkeit. Die alle sind nicht gerecht. Sondern Gerechtigkeit hängt daran, daß man ohn alles Warum handle.“[70]

„Der Gerechte ist Gottesgleichen; denn Gott ist die Gerechtigkeit. Wer also in der Gerechtigkeit ist, der ist in Gott, ja ist selber Gott.“[71]

Und Luther stellt in „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ fest:

„Also sehen wir, daß an dem Glauben ein Christenmensch genug hat; er bedarf keines Werkes, daß er fromm sei. Bedarf er denn keines Werkes mehr, so ist er gewißlich entbunden von allen Geboten und Gesetzen. Ist er entbunden, so ist er gewißlich frei. Das ist die christliche Freiheit, der einzige Glaube, der da macht, nicht, daß wir müßig gehen oder übel tun mögen, sondern daß wir keines Werkes zur Frömmigkeit bedürfen und um Seligkeit zu erlangen.“[72]

Dazu Eckhart: „Im Erleben der Seligkeit wird der Mensch zu einem Nichts, und alles Erschaffene wird ihm zum Nichts! Hieran anknüpfend sagt der werte Dionysos: ‚Herr, führe mich dahin, wo du ein Nichts bist!‘ Das bedeutet: ‚Führe mich, Herr, dahin, wo du jede erschaffene Vernunft überragst!‘ (…) Deshalb muß der Geist hinausschreiten über die Dinge und alle Dinglichkeit, über die Gestaltungen und alle Gestaltigkeit, selbst über das Wesen in seiner Wesensgeartetheit: dann wird in ihm aufgehen die volle Wirklichkeit der Seligkeit – die als Wesensbesitz nur zukommt der Schaffenden Vernunft!

Ich habe wohl gesagt, daß ein Mensch Gott schon in diesem Leben in derselben Vollkommenheit schaut und in ganz derselben Weise selig ist, wie nach diesem Leben. Dies kommt vielen Leuten wunderlich vor. Darum bemühet euch ernstlich, es zu verstehn! [Auch Johannes vom Kreuz meint, man könne es „nicht für unglaubwürdig halten, daß Gott einer Seele schon in diesem Leben alles erfüllt, die er geprüft und die sich in der Prüfung bewährte.“[73]] Die Schaffende Vernunft entquillt aus der ewigen Wahrheit und begreift, in Vernunftweise, alles das in sich, was Gott in sich begreift. Und ebenso begreift diese edle, göttliche, diese ‚schaffende Vernunft‘ sich selbst, nur mit sich selber – nach der Weise Gottes. In ihrem Entquellen und ihrem Gehalte an Sein nach ist sie rein nur Gott.“[74]

„Wohlan! so gib denn ernstlich Acht: ich habe ehedem behauptet, und behaupte es noch, daß ich jetzt schon alles das besitze, was mir in Ewigkeit beschieden ist! (…) Hier ist Seele und Gottheit eins. Hier endlich hat sie gefunden, daß das Reich Gottes ist: sie selbst!“[75]

„So bin ich denn die Ursache meiner selbst, nach meinem ewigen und nach meinem zeitlichen Wesen. Nur hierum bin ich geboren. Nach meiner ewigen Geburtsweise bin ich von Ewigkeit her gewesen, und bin, und werde ewiglich bleiben! Nur was ich als zeitliches Wesen bin, das wird sterben und zu nichte werden; denn es gehört dem Tage an, darum muß es, wie die Zeit, verschwinden. In meiner Geburt wurden auch alle Dinge geboren: ich war zugleich meine eigene und aller Dinge Ursache. Und wollte ich: weder ich wäre, noch alle Dinge. Wäre aber ich nicht, so wäre auch Gott nicht. – Daß man dies verstehe, ist nicht erforderlich.“[76]

„Die Braut ist eingetroffen

In den ersehnten, wunderschönen Garten

und ruht, wie sie sich wünschte,

den Hals zurückgelehnt,

still in den süßen Armen ihres Liebsten.“[77]

 

 

Anmerkungen

 


[1] Büttner, Herman (Hrsg.), Meister Eckeharts Schriften und Predigten, Bd. 1, Leipzig 1903, S. 129

[2] Büttner, Herman (Hrsg.), Meister Eckeharts Schriften und Predigten, Bd. 1, Leipzig 1903, S. 124

[3] Ratzinger, Joseph, Einführung in das Christentum, München 1968, S. 52

[4] Hübscher, Arthur (Hrsg.), Arthur Schopenhauer, Der handschriftliche Nachlaß in fünf Bänden, Band 4/2, München 1985, S. 28f

[5] Büttner, Herman (Hrsg.), Meister Eckeharts Schriften und Predigten, Bd. 1, Leipzig 1903, S. 155

[6] Büttner, Herman (Hrsg.), Meister Eckeharts Schriften und Predigten, Bd. 1, Leipzig 1903, S. 25

[7] Büttner, Herman (Hrsg.), Meister Eckeharts Schriften und Predigten, Bd. 1, Leipzig 1903, S. 47

[8] Büttner, Herman (Hrsg.), Meister Eckeharts Schriften und Predigten, Bd. 2, Jena 1909, S. 166

[9] Osuna, Francisco de, Versenkung – Weg und Weisung des kontemplativen Gebetes, Freiburg / Br. 1992, S. 52f

[10] Büttner, Herman (Hrsg.), Meister Eckeharts Schriften und Predigten, Bd. 1, Leipzig 1903, S. 71

[11] Büttner, Herman (Hrsg.), Meister Eckeharts Schriften und Predigten, Bd. 2, Jena 1909, S. 51

[12] Büttner, Herman (Hrsg.), Meister Eckeharts Schriften und Predigten, Bd. 2, Jena 1909, S. 100

[13] Büttner, Herman (Hrsg.), Meister Eckeharts Schriften und Predigten, Bd. 1, Leipzig 1903, S. 161

[14] Johannes vom Kreuz, zit. n. Boldt, Johannes, Begegnung mit Johannes vom Kreuz, Leutesdorf 1981, S. 60f

[15] Johannes vom Kreuz, Die dunkle Nacht, Freiburg 1992, S. 179

[16] Büttner, Herman (Hrsg.), Meister Eckeharts Schriften und Predigten, Bd. 2, Jena 1909, S. 16

[17] Büttner, Herman (Hrsg.), Meister Eckeharts Schriften und Predigten, Bd. 2, Jena 1909, S. 195

[18] Büttner, Herman (Hrsg.), Meister Eckeharts Schriften und Predigten, Bd. 2, Jena 1909, S. 139f

[19] Büttner, Herman (Hrsg.), Meister Eckeharts Schriften und Predigten, Bd. 2, Jena 1909, S. 185

[20] Ratzinger, Joseph, Einführung in das Christentum, München 1968, S. 126

[21] Büttner, Herman (Hrsg.), Meister Eckeharts Schriften und Predigten, Bd. 2, Jena 1909, S. 189

[22] Büttner, Herman (Hrsg.), Meister Eckeharts Schriften und Predigten, Bd. 2, Jena 1909, S. 27

[23] Büttner, Herman (Hrsg.), Meister Eckeharts Schriften und Predigten, Bd. 2, Jena 1909, S. 34

[24] Büttner, Herman (Hrsg.), Meister Eckeharts Schriften und Predigten, Bd. 2, Jena 1909, S. 87

[25] Ratzinger, Joseph, Einführung in das Christentum, München 1968, S. 146f

[26] Büttner, Herman (Hrsg.), Meister Eckeharts Schriften und Predigten, Bd. 2, Jena 1909, S. 185

[27] Bukkyo Dendo Kyokai / Gesellschaft zur Förderung des Buddhismus (Hrsg.), Die Lehre Buddhas, Tokyo 1984, S. 107f

[28] Rumi, zit. n. Sundermann, Werner (Hrsg.), Lob der Geliebten, Berlin 1983, S. 122

[29] Rumi, zit. n. Boldt, Johannes, Gotttrunkene Poeten, Berlin 2013, S. 119

[30] Augustinus, Aurelius, Bekenntnisse, I, II

[31] Ratzinger, Joseph, Einführung in das Christentum, München 1968, S. 65

[32] Ratzinger, Joseph, Einführung in das Christentum, München 1968, S. 64f

[33] Büttner, Herman (Hrsg.), Meister Eckeharts Schriften und Predigten, Bd. 1, Leipzig 1903, S. 105

[34] Osuna, Francisco de, Versenkung – Weg und Weisung des kontemplativen Gebetes, Freiburg / Br. 1992, S. 23

[35] Büttner, Herman (Hrsg.), Meister Eckeharts Schriften und Predigten, Bd. 1, Leipzig 1903, S. 112

[36] Luther, Martin, An den christlichen Adel deutscher Nation, München o. J., S. 36

[37] Büttner, Herman (Hrsg.), Meister Eckeharts Schriften und Predigten, Bd. 1, Leipzig 1903, S. 106

[38] Büttner, Herman (Hrsg.), Meister Eckeharts Schriften und Predigten, Bd. 2, Jena 1909, S. 7

[39] Teresa von Ávila, zit. n. Münzebrock, Elisabeth, Teresa von Avila, Freiburg / Br. 2004, S. 166

[40] Ratzinger, Joseph, Einführung in das Christentum, München 1968, S. 90

[41] Luther, Martin, An den christlichen Adel deutscher Nation, München o. J., S. 128

[42] Büttner, Herman (Hrsg.), Meister Eckeharts Schriften und Predigten, Bd. 1, Leipzig 1903, S. 167

[43] Tacitus, Publius Cornelius, Germania, Kapitel 9

[44] Seneca, Lucius Annaeus, Epistulae morales, 41,3

[45]Clairvaux, Bernhard von, Brief an Heinrich Murdach (ep. 106)

[46] Johannes vom Kreuz, zit. n. Boldt, Johannes, Begegnung mit Johannes vom Kreuz, Leutesdorf 1981, S. 76

[47] Tagore, Rabindranath, zit. n. Painadath, Sebastian, Wir alle sind Pilger, München 2010, S. 122

[48] Büttner, Herman (Hrsg.), Meister Eckeharts Schriften und Predigten, Bd. 1, Leipzig 1903, S. 94

[49] Büttner, Herman (Hrsg.), Meister Eckeharts Schriften und Predigten, Bd. 1, Leipzig 1903, S. 100

[50] Büttner, Herman (Hrsg.), Meister Eckeharts Schriften und Predigten, Bd. 1, Leipzig 1903, S. 136

[51] Büttner, Herman (Hrsg.), Meister Eckeharts Schriften und Predigten, Bd. 2, Jena 1909, S. 209

[52] Teresa von Ávila, zit. n. Körner, Reinhard, Was ist Inneres Beten?, Münsterschwarzach 2022, S. 78

[53] Büttner, Herman (Hrsg.), Meister Eckeharts Schriften und Predigten, Bd. 2, Jena 1909, S. 24

[54] Meister Eckhart, Mystische Schriften, Berlin 1903, S. 61

[55] Schweitzer, Albert, Die Lehre der Ehrfurcht vor dem Leben, Berlin 1988, S. 31

[56] Schiller, Friedrich, Sämmtliche Werke in zwölf Bänden, Bd. 1, Leipzig o. J., S. 252

[57] Luther, Martin, An den christlichen Adel deutscher Nation, München o. J., S. 77

[58] Luther, Martin, An den christlichen Adel deutscher Nation, München o. J., S. 92f

[59] 3. Mose 19; 1, 18

[60] Horaz, Satiren I, 4,85; zit. n. Büchmann, Georg, Geflügelte Worte, Berlin 1915, S. 142

[61] Schweitzer, Albert, Die Lehre der Ehrfurcht vor dem Leben, Berlin 1988, S. 35

[62] Matthäus 5; 39, 44, 45

[63] Osuna, Francisco de, Versenkung – Weg und Weisung des kontemplativen Gebetes, Freiburg / Br. 1992, S. 27

[64] Osuna, Francisco de, Versenkung – Weg und Weisung des kontemplativen Gebetes, Freiburg / Br. 1992, S. 26ff

[65] Jesaja 65, 25

[66] Schweitzer, Albert, Die Lehre der Ehrfurcht vor dem Leben, Berlin 1988, S. 30ff

[67] Büttner, Herman (Hrsg.), Meister Eckeharts Schriften und Predigten, Bd. 1, Leipzig 1903, S. 146

[68] Büttner, Herman (Hrsg.), Meister Eckeharts Schriften und Predigten, Bd. 2, Jena 1909, S. 54

[69] Büttner, Herman (Hrsg.), Meister Eckeharts Schriften und Predigten, Bd. 1, Leipzig 1903, S. 100

[70] Büttner, Herman (Hrsg.), Meister Eckeharts Schriften und Predigten, Bd. 2, Jena 1909, S. 169

[71] Büttner, Herman (Hrsg.), Meister Eckeharts Schriften und Predigten, Bd. 2, Jena 1909, S. 170

[72] Luther, Martin, An den christlichen Adel deutscher Nation, München o. J., S. 132

[73] Johannes vom Kreuz, zit. n. Boldt, Johannes, Begegnung mit Johannes vom Kreuz, Leutesdorf 1981, S. 57

[74] Büttner, Herman (Hrsg.), Meister Eckeharts Schriften und Predigten, Bd. 1, Leipzig 1903, S. 202f

[75] Büttner, Herman (Hrsg.), Meister Eckeharts Schriften und Predigten, Bd. 2, Jena 1909, S. 208

[76] Büttner, Herman (Hrsg.), Meister Eckeharts Schriften und Predigten, Bd. 1, Leipzig 1903, S. 176

[77] Johannes vom Kreuz, Die dunkle Nacht, Freiburg 1992, S. 179

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